Das Mitternachtskleid
Lautstärke. »Ich bin keine Ausgeburt! Ich bin eine Hausgeburt!«
»Ich hole die Wachen, Sie mitternachtsböse Person!«, kreischte die Pflegerin und stürmte hinaus.
»Es ist erst halb zwölf!«, rief Tiffany hinter ihr her, momentan völlig aus der Fassung gebracht. Die Schmerzen verlagerten sich, sie spürte es deutlich. Sie konnte nicht mehr richtig geradeaus denken. Alles geriet aus dem Gleichgewicht. Sie sammelte sich kurz, und mit einem angestrengten Lächeln wandte sie sich wieder dem Baron zu.
»Es tut mir sehr leid. Ich wollte Sie nicht aufregen, gnädiger Herr«, hob sie an, doch dann erkannte sie, dass er unter all den Tränen strahlte, dass sein Gesicht sonnenhell leuchtete.
»Aufgeregt? Um Gottes willen, nein. Ich bin doch nicht aufgeregt.« Er versuchte, sich im Sessel aufzurichten, und deutete mit zitterndem Finger auf das Feuer. »Ganz im Gegenteil, ich bin aufgekratzt! Ich fühle mich wieder lebendig! Ich bin jung, mein liebes Fräulein Tiffany Weh! Ich erinnere mich an einen ganz besonderen Tag! Kannst du mich nicht sehen? Unten im Tal? Ein sonniger, frischer Septembertag. Ein kleiner Junge in einer kratzigen Tweedjacke, ja, ich erinnere mich, sie hat furchtbar gekratzt – und nach Urin gestunken! Mein Vater sang ›Auf zum Himmel steigt die Lerche‹, und ich habe versucht mitzusingen, was ich damals natürlich noch gar nicht konnte, weil ich ungefähr so viel Stimme hatte wie ein Kaninchen. Wir haben uns das Abflämmen der Stoppelfelder angesehen. Überall war Rauch, und während das Feuer näher kam, sprangen Mäuse, Ratten, Kaninchen und sogar Füchse auf uns zu, um sich vor den Flammen in Sicherheit zu bringen. Fasane und Rebhühner warteten wie üblich bis zur allerletzten Sekunde, bevor sie aufflogen. Plötzlich wurde es totenstill, und ich sah eine Häsin. Ein Prachtexemplar. Wusstest du übrigens, dass die Landbevölkerung früher glaubte, alle Hasen seien weiblich? Na, jedenfalls stand sie einfach nur da und sah mich an, während um uns herum die brennenden Halme niederrieselten und hinter ihr die Flammen züngelten. Sie sah mir direkt in die Augen, und ich könnte schwören, dass sie genau in dem Moment, als ich ihren Blick erwiderte, in die Höhe schnellte und mitten ins Feuer hineinsprang. Natürlich habe ich Rotz und Wasser geheult. Sie war so schön. Aber mein Vater hat mich auf den Arm genommen und gesagt, er würde mir ein kleines Geheimnis verraten. Und dann hat er mir das Hasenlied beigebracht, damit ich Bescheid wusste und nicht mehr weinen musste. Und als wir hinterher durch die Asche gelaufen sind, lag tatsächlich nirgendwo eine tote Häsin.« Der Baron drehte ihr verlegen das Gesicht zu. Er strahlte. Er strahlte wirklich. Er leuchtete regelrecht.
Woher kam dieses Licht? Für das Feuer war es zu gelblich, und von draußen konnte es auch nicht hereinfallen, denn die Vorhänge waren zugezogen. Es war immer viel zu düster in diesem Zimmer, aber jetzt war es so hell wie an einem sonnigen, frischen Septembertag …
»Ich weiß noch, dass ich mit Buntstiften ein Bild davon gemalt habe, als wir wieder zu Hause waren. Und mein Vater war so stolz auf mich, dass er damit durch die ganze Burg gelaufen ist und es jedem gezeigt hat, damit alle es bewundern konnten«, fuhr der alte Mann fort, begeistert wie ein kleiner Junge. »Es war bloß die Kritzelei eines Kindes, aber er hat davon geschwärmt, als wäre es ein wahres Meisterwerk. Wie Eltern nun einmal so sind. Nach seinem Ableben habe ich es übrigens zwischen seinen Unterlagen gefunden. Falls es dich interessiert … Das Bild liegt in einer Ledermappe in der Geldtruhe. Schließlich ist es eine Kostbarkeit. Ich habe noch nie jemandem davon erzählt«, sagte der Baron. »Menschen, Tage, Erinnerungen – sie kommen und gehen, aber diese eine Erinnerung war immer da. Es ist mit Geld nicht aufzuwiegen, dass du mir diese wunderbare Vision zurückgebracht hast, Fräulein Tiffany Weh, deines Zeichens Hexe. Eine Vision, an die ich mich erinnern werde, bis an mein Lebens…«
Die Flammen im Feuer standen einen Augenblick still, und Kälte erfüllte den Raum. Tiffany war sich nie ganz sicher, ob sie den Tod sehen konnte, ob sie ihn wirklich sah. Vielleicht geschah es auch nur in ihrem Kopf. Auf jeden Fall war er da.
WAR DAS NICHT EIN PASSENDER ABGANG?, fragte Tod.
Tiffany schreckte nicht zurück. Wozu auch? »Hast du das etwa so arrangiert?«, fragte sie zurück.
SO GERN ICH MIR DAS AUCH ALS VERDIENST ANRECHNEN WÜRDE, SIND HIER
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