Das Mitternachtskleid
Augenblick bitte. Es ist wichtig.« Die Schmerzen machten sich bemerkbar. Sie waren ungeduldig und wollten sich losreißen. Tiffany hatte schon ganz feuchte Hände.
»Sie haben schwarze Magie betrieben, geben Sie es zu!«
Tiffany atmete tief durch. »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen«, sagte sie. »Aber ich weiß, dass ich gerade die letzten Schmerzen, die der Baron in seinem Leben zu erdulden hatte, über meiner rechten Schulter ausbalanciere. Und ich kann sie hier im Zimmer nicht loslassen, nicht bei so vielen Leuten. Also, bitte! Ich muss hier raus, ich brauche mehr Platz, sofort!« Sie schubste die Pflegerin beiseite, und die Wachen gaben ihr – sehr zu Fräulein Propers Verdruss – augenblicklich den Weg frei.
»Haltet sie auf! Sonst fliegt sie weg! Sie ist eine Hexe!«
Tiffany kannte sich gut aus auf der Burg. So schnell sie konnte, lief sie eine Treppe hinunter in den Innenhof, während sich die Schmerzen regten und ins Freie drängten. Man musste sie als eine Art Tier begreifen, das man zwar in Schach halten konnte, was aber nur eine gewisse Zeitlang funktionierte. Ungefähr bis … jetzt.
Der Feldwebel tauchte neben ihr auf, und sie packte ihn am Arm. »Frag nicht!«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wirf deinen Helm in die Luft!«
Er war klug genug, ihren Befehl zu befolgen, und schleuderte den Helm wie einen Suppenteller in die Höhe. Tiffany schmetterte die Schmerzen hinterher. Sie rissen sich mit einer seidig geschmeidigen Sanftheit los, die einem Angst machen konnte. Der Helm verharrte mitten im Flug, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt, und fiel zerknautscht und in eine Dampfwolke gehüllt auf das Pflaster.
Als der Feldwebel ihn aufheben wollte, ließ er ihn sofort wieder fallen. »Der ist ja kochend heiß!« Er starrte Tiffany an, die an der Wand lehnte und nach Luft schnappte. »Und so starke Schmerzen hast du ihm jeden Tag abgenommen?«
Sie öffnete die Augen. »Ja, aber normalerweise habe ich genug Zeit, sie irgendwo zu deponieren. Wasser und Stein taugen nicht viel, aber Metall hat sich schon oft bewährt. Frag mich nicht, warum. Wenn ich versuche, dahinterzukommen, wie es funktioniert, funktioniert es nicht mehr.«
»Ich hab gehört, du sollst auch alle möglichen Feuertricks draufhaben«, sagte Feldwebel Brian voller Bewunderung.
»Das Feuer lässt sich leicht beherrschen, wenn man einen kühlen Kopf bewahrt, aber Schmerzen … die wehren sich. Schmerzen leben. Schmerzen sind der Feind.«
Vorsichtig bückte sich der Feldwebel ein zweites Mal nach seinem Helm. »Den muss ich unbedingt ausbeulen, bevor der Chef ihn zu sehen kriegt«, begann er. »Bei ihm muss ja immer alles tipptopp sein … Ach.« Er blickte zu Boden.
»Ja«, sagte Tiffany verständnisvoll. »Es wird eine Weile dauern, bis man sich daran gewöhnt hat, dass er nicht mehr da ist.« Wortlos reichte sie ihm ihr Taschentuch. Er schnäuzte sich.
»Aber wenn du Schmerzen wegnehmen kannst«, sagte er. »Heißt das, du kannst auch …«
Tiffany hob abwehrend die Hand. »Lass es gut sein«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß, was du fragen willst, und die Antwort lautet nein. Wenn du dir die Hand abhacken würdest, könnte ich vielleicht dafür sorgen, dass du nicht mehr daran denken musst, bis du das nächste Mal mit Messer und Gabel essen möchtest. Aber bei Sachen wie Todesfällen, Verlust oder Trauer bin ich machtlos. An so etwas würde ich mich auch gar nicht ranwagen. Es gibt eine Heilkunst, die sich ›Seelentrost‹ nennt, und ich kenne auf der ganzen Welt nur eine einzige Person, die sie beherrscht. Aber ich will sie erst gar nicht fragen, wie es geht. Diese Kunst ist mir zu dunkel.«
»Tiff …« Brian zögerte und blickte sich um, als rechnete er damit, sich jeden Augenblick einen weiteren Knuff von der Pflegerin einzuhandeln.
Tiffany wartete ab. Bitte, frag es nicht, dachte sie. Du kennst mich schon dein ganzes Leben lang. Du kannst mir doch nicht im Ernst zutrauen, ich hätte …
Brian sah sie flehentlich an. » Hast du …?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Tiffany. »Was hast du denn für Grillen im Kopf? Wie kannst du so etwas denken? «
»Weiß ich auch nicht«, nuschelte Brian gequält. Er wurde rot.
»Damit wäre das also geklärt.«
»Dann sollte ich wohl zusehen, dass der junge Herr es erfährt«, sagte Brian, nachdem er noch einmal ins Taschentuch trompetet hatte. »Aber ich weiß bloß, dass er in die große Stadt gefahren ist, mit seiner – «
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