Das Mitternachtskleid
Größten, die allmählich wieder zu sich kamen.
Die zukünftige Schwiegermutter fasste Roland am Ärmel. »Du kommst jetzt sofort mit. Weg von dieser Person. Sie ist nichts weiter als eine – «
»Roland, dein Vater ist tot!«
Schlagartig schwieg alles, und Tiffany fand sich in einem Dickicht aus Blicken wieder.
Oh nein, dachte sie. So hatte ich das nicht geplant.
»Es tut mir leid«, sagte sie in die vorwurfsvolle Stille hinein. »Ich konnte nichts mehr für ihn tun.« Langsam bekam Roland wieder Farbe im Gesicht.
»Aber du hast dich doch um ihn gekümmert.« Er klang, als versuchte er, ein Rätsel zu lösen. »Warum hast du ihn nicht am Leben gehalten?«
»Ich konnte ihm nur die Schmerzen nehmen. Es tut mir so leid, mehr stand nicht in meiner Macht.«
»Aber du bist eine Hexe! Ich dachte, du verstehst dein Handwerk. Du bist eine Hexe! Warum musste er sterben?«
Was hat das Weib ihm angetan? Trau ihr nicht über den Weg! Sie ist eine Hexe! Hexen haben kein Recht auf Leben!
Tiffany hörte die Wörter nicht; sie krochen wie schleimige Nacktschnecken durch ihren Kopf. Sie kam nicht mehr dazu, sich zu fragen, durch wie viele andere Köpfe sie wohl noch gekrochen waren, denn in diesem Moment packte Frau Prust ihren Arm. Rolands Gesicht verzerrte sich vor Wut, und sie erinnerte sich an die zeternde Gestalt auf der Straße, schattenlos im strahlenden Sonnenschein, die Unflat hervorspie wie Erbrochenes, bis Tiffany das ekelhafte Gefühl hatte, nie wieder richtig sauber werden zu können.
Und die Menschen um sie herum machten einen ängstlichen, gehetzten Eindruck, wie Kaninchen, die einen Fuchs witterten.
Dann sah sie ihn. Kaum auszumachen am Rand der Menschenmenge. Die beiden Augenlöcher starrten Tiffany sekundenlang an, bevor sie plötzlich wieder verschwanden. Und nicht zu wissen, wohin, machte ihr nur noch mehr Angst.
Sie wandte sich Frau Prust zu. »Was ist das?«
Bevor sie antworten konnte, mischte sich der hünenhafte Wachmann ins Gespräch: »Entschuldigen Sie, meine verehrten Damen und Herren … beziehungsweise meine verehrten Damen und mein verehrter Herr. Mein Name ist Hauptmann Karotte, und da ich hier heute Abend der Offizier vom Dienst bin, habe ich das zweifelhafte Vergnügen, diesen Vorfall zu bearbeiten. Na, dann wollen wir doch mal sehen.« Er schlug sein Notizbuch auf, zückte einen Bleistift und lächelte aufmunternd in die Runde. »Wer möchte denn den Anfang machen, mir bei der Auflösung dieses kleinen Rätsels zu helfen? Als Erstes würde ich sehr gern wissen, was eine Horde von Wir-sind-die-Größten in meiner Stadt zu suchen hat – mal abgesehen von Streit.«
Seine glänzende Rüstung tat den Augen weh. Außerdem roch er stark nach Seife. Das war für Tiffany gut genug.
Als sie sich melden wollte, hielt Frau Prust energisch ihre Hand fest. Worauf Tiffany sie rigoros abschüttelte und mit einer Stimme, die noch um einiges energischer war als der Griff, sagte: »Das dürfte wohl ich sein, Herr Hauptmann.«
»Und Sie wären … ? «
Am liebsten ganz woanders, dachte Tiffany, aber sie antwortete: »Tiffany Weh, Herr Hauptmann.«
»Unterwegs zu einem Junggesellinnenabschied?«
»Nein«, sagte Tiffany.
»Ja!«, sagte Frau Prust schnell.
Der Hauptmann legte den Kopf auf die Seite. »Dann geht nur eine von Ihnen hin? Das klingt ja nicht gerade nach einer großen Sause.«
Die Herzogin konnte nicht mehr an sich halten. Zitternd vor Wut richtete sie anklagend den Zeigefinger auf Tiffany und keifte los. »Lassen Sie sich von dieser Person bloß nicht auf der Nase herumtanzen, Herr Wachtmeister! Diese … diese … diese Hexe wusste, dass wir in die Stadt fahren wollten, um Schmuck und Geschenke zu erwerben, und sie hat sich ganz offensichtlich, ich wiederhole: offensichtlich mit ihren Wichten verbündet, um uns auszurauben!«
»Hab ich nicht!«, rief Tiffany.
Der Hauptmann hob die Hand, als müsste er auf einer Straßenkreuzung den Verkehr regeln. »Fräulein Weh, haben Sie tatsächlich Größte dazu angestiftet, in die Stadt zu kommen?«
»Doch, schon. Aber das war keine Absicht. Es hat sich spontan so ergeben. Ich wollte nicht – «
Wieder hob der Hauptmann die Hand. »Genug!« Er rieb sich nachdenklich die Nase. Dann seufzte er. »Fräulein Weh, hiermit verhafte ich Sie wegen des dringenden Verdachts der… beziehungsweise des… Ach, sagen wir einfach, auf Verdacht. Ich bin mir natürlich durchaus darüber im Klaren, dass es unmöglich ist, einen Größten wider seinen
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