Das Mitternachtskleid
»Ich fass es nich! Größte im Knast!«
»Schon wieder«, stöhnte der Doofe Wullie. »Ich glaub, ich kann mir nie wieder in die Augen gucken.«
Frau Prust setzte sich ins Stroh und starrte Tiffany an. »Also dann, mein Kind. Was war das, was wir da gesehen haben? Keine Augen. Keine Fenster zur Seele. Vielleicht also auch keine Seele?«
Tiffany war es erbärmlich zumute. »Ich weiß es nicht! Ich bin ihm unterwegs auf der Straße begegnet. Die Größten sind mitten durch ihn hindurchgelaufen! Er ist wie ein Geist. Und er stinkt. Haben Sie es gerochen? Und eben hatten wir die ganze Menschenmenge gegen uns. Warum? Wir haben doch überhaupt nichts gemacht!«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er ein Er ist«, sagte Frau Prust. »Er könnte sogar ein Es sein, vielleicht irgendein Dämon. Aber mit denen kenne ich mich nicht so aus. Meine starke Seite ist eher der Einzelhandel. Was nicht heißen soll, dass es dabei nicht auch ziemlich dämonisch zugehen kann.«
»Aber sogar Roland ist auf mich losgegangen«, sagte Tiffany. »Dabei sind wir immer … Freunde gewesen.«
»Ah-ha.«
»Ah-ha? Was fällt Ihnen ein?«, blaffte Tiffany. »Kommen Sie mir bloß nicht so. Wenigstens laufe ich nicht durch die Gegend und mache andere Hexen zum Gespött der Leute.«
Frau Prust verpasste ihr eine Ohrfeige. Es war ein Gefühl, als würde man mit einem Gummibleistift geschlagen. »Du unverschämtes Gör, du halbe Portion. Ich laufe durch die Gegend und sorge dafür, dass andere Hexen vor den Leuten sicher sind.«
Oben unter der Decke stieß der Doofe Wullie Rob Irgendwer in die Rippen. »Das könnwer doch nich zulassen, dass einer unsrer großen kleinen Hexe eine runterhaut, oder, Rob?«
Rob legte den Finger auf die Lippen. »Na ja, aber wenn Weibsbilder streiten, kanns haarig werden. Da hält man sich besser raus. Hör auf meinen Rat, ich bin ’n verheirateter Mann. Wer sich als Kerl in nen Weiberstreit einmischt, kriegts in Nullkommanix mit beiden zu tun. Und damit mein ich nich das Armeverschränken, das Beleidigte-Schnute-Ziehen oder das Ungeduldig-mit-dem-Fuß-Aufklopfen. Damit mein ich das Eins-übergebraten-kriegen-mit-dem-Wäscheknüppel. «
Die Hexen starrten einander an. Tiffany fühlte sich plötzlich desorientiert, so als wäre sie von A nach Z gegangen, ohne durch den Rest des Alphabets gekommen zu sein.
»Ist das gerade wirklich passiert, mein Kind?«, fragte Frau Prust.
»Ist es«, entgegnete Tiffany scharf. »Und es brennt immer noch.«
»Was ist denn bloß über uns gekommen?«
»Hass«, sagte Tiffany. »Einen Augenblick lang habe ich Sie richtig gehasst. Das hat mir Angst gemacht. Ich wollte Sie nur noch loswerden. Sie waren einfach – «
»An allem schuld?«, ergänzte Frau Prust.
»Genau!«
»So, so«, sagte Frau Prust. »Zwietracht. Die Hexe ist der Prügelknabe. Die Hexe ist der Sündenbock. Wo und wie fängt so was an? Vielleicht haben wir es eben herausgefunden. « Nachdenklich sah sie Tiffany aus ihrem hässlichen Gesicht an. »Seit wann bist du schon eine Hexe, mein Kind?«
»Ungefähr, seit ich acht war«, antwortete Tiffany. Und dann erzählte sie ihr die Geschichte von Frau Schnappich, der Hexe aus dem Haselnusswald.
Frau Prust hörte ihr aufmerksam zu. »Wir wissen, dass so etwas immer wieder geschieht«, sagte sie dann. »Alle paar hundert Jahre denkt auf einmal die halbe Welt, dass Hexen böse sind. Woher das kommt, weiß keiner. Es passiert einfach. Hast du in der letzten Zeit vielleicht irgendwas gemacht, wodurch du aufgefallen bist? Einen besonders wichtigen Zauber oder so?«
Tiffany überlegte. »Na ja, da war die Geschichte mit dem Schwärmer. Der war allerdings gar nicht so schlimm. Und davor die Sache mit der Elfenkönigin, aber das ist schon ewig lange her. Auch keine schöne Begegnung. Ich habe ihr eins mit der Bratpfanne über den Schädel gegeben – das war damals wahrscheinlich die beste Lösung. Hm, tja. Und vor ein paar Jahren hab ich dann ja auch noch den Winter geküsst.«
Frau Prust, die ihr mit offenem Mund gelauscht hatte, fragte: »Das warst du ?«
»Ja«, sagte Tiffany.
»Im Ernst?«
»Ja. Das war ich.«
»Und wie hat sich das angefühlt?«
»Erst kühl, dann feucht. Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte es nicht machen müssen. Es tut mir leid, okay?«
»Vor zwei Jahren ungefähr?«, sagte Frau Prust. »Das ist aber interessant. Damals ist es nämlich mit den Problemen losgegangen. Keine größeren Zwischenfälle, bloß so ein Gefühl, dass uns die Leute
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