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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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nicht mehr respektiert haben. Als läge irgendwas in der Luft. Nimm nur mal den Jungen von vorhin, den mit dem Stein. Noch vor einem Jahr hätte er sich so was nicht getraut. Früher haben mir die Leute im Vorübergehen zugenickt. Heute gucken sie mich höchstens noch schräg von der Seite an. Oder sie machen sicherheitshalber schnell ein Zeichen, damit ich ihnen kein Unglück bringe. Von den Kolleginnen habe ich das auch schon gehört. Und wie war es bei dir zu Hause?«
    »Schwer zu sagen«, antwortete Tiffany. »Die Leute hatten ein bisschen Angst vor mir, aber andererseits bin ich mit den meisten verwandt. Trotzdem, es war irgendwie seltsam. Aber ich dachte, das müsste so sein. Alle wussten ja, dass ich den Winter geküsst hatte. Und sie liegen mir damit immer noch in den Ohren. Dabei war es doch nur ein einziger Kuss.«
    »Na, hier hocken wir alle ein bisschen mehr aufeinander. Und Hexen haben ein gutes Gedächtnis. Damit meine ich nicht einzelne Hexen, sondern alle zusammen. Unser gemeinsames Gedächtnis reicht sehr weit zurück, bis in die wirklich grausamen Zeiten. Als ein spitzer schwarzer Hut schon ausreichte, um mit Steinen beschmissen zu werden – oder Schlimmeres. Und wenn man noch weiter zurückgeht … Es ist wie eine Krankheit, die einen schleichend befällt. Sie liegt in der Luft und überträgt sich von Mensch zu Mensch. Hetze findet immer ein offenes Ohr. Und es gibt immer einen Vorwand, eine alte Frau mit Steinen zu bewerfen, die ein bisschen anders aussieht. Mit einem Sündenbock tut man sich leichter. Du würdest dich wundern, was man einem anderen Menschen alles in die Schuhe schieben kann, sobald man ihn als Hexe verteufelt hat.«
    »Sie haben ihre Katze gesteinigt«, sagte Tiffany wie zu sich selbst.
    »Und jetzt wirst du von einem Mann ohne Seele verfolgt. Sein Gestank ist schuld daran, dass sogar Hexen Hexen hassen. Du hast doch hoffentlich nicht vor, mich anzuzünden, Fräulein Tiffany Weh?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Oder mich auf den Boden zu werfen und unter einer Ladung Steine zu begraben?«
    »Was reden Sie denn da?«
    »Und es waren nicht nur Steine«, sagte Frau Prust. »Es gibt ja auch noch diese ganzen Geschichten von Hexen auf dem Scheiterhaufen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass tatsächlich so viele echte Hexen verbrannt wurden, es sei denn, man hätte sie irgendwie ausgetrickst. Ich glaube, es waren zum größten Teil arme alte Frauen. Hexen sind fürs Verbrennen meist viel zu klitschig, und die Leute werden wohl kaum ihr gutes Feuerholz für sie verschwendet haben. Dagegen ist es ein Leichtes, eine alte Frau umzuschubsen, ein Scheunentor aus den Angeln zu heben, es wie bei einem Butterbrot auf sie zu legen und dann so lange Steine darauf zu türmen, bis sie keine Luft mehr kriegt. Und schon ist man das Böse los. Aber ganz so einfach ist es dann natürlich doch nicht. Weil irgendwo anders längst wieder etwas vorgeht, und weil es noch genügend andere alte Frauen gibt. Und sollten die alten Frauen knapp werden, gibt es ja auch immer noch die alten Männer. Und die Fremden. Und die Außenseiter. Bis es einem vielleicht eines Tages selbst an den Kragen geht. Erst dann hat der Wahnsinn ein Ende. Wenn keiner mehr da ist, den er befallen kann. Tiffany Weh, weißt du eigentlich, dass ich es gefühlt habe, als du den Winter geküsst hast? Jeder, der auch nur eine einzige Unze magisches Talent besitzt, hat etwas gespürt.« Sie kniff die Augen zusammen und starrte Tiffany an. »Was hast du aufgeweckt, Tiffany Weh? Welches Übel hat da seine nicht vorhandenen Augen geöffnet und sich gefragt, wer du wohl sein magst? Was hast du über uns gebracht? Was hast du getan? «
    »Sie meinen also …« Tiffany zögerte. »… dass er hinter mir her ist?«
    Sie schloss die Augen vor Frau Prusts vorwurfsvoller Miene und erinnerte sich an den Tag, als sie den Winter geküsst hatte. An das tiefe Grauen und die fürchterliche Angst und an das sonderbare Gefühl der Wärme inmitten von Eis und Schnee. Und der Kuss selbst? War so sanft gewesen wie ein seidenes Taschentuch, das auf einen Teppich segelt. Bis sie die ganze Hitze der Sonne über die Lippen des Winters hatte fließen lassen und er zerschmolz. Frost gegen Feuer. Feuer gegen Frost. Mit Feuer konnte sie schon immer gut umgehen. Das Feuer war schon immer ihr Freund. Der Winter war nicht gestorben, nein. Seither hatte es andere Winter gegeben, aber keine so grausamen, längst nicht so grausam. Und es war auch nicht nur ein Kuss

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