Das Mitternachtskleid
heutzutage geht es da einen Hauch gesitteter zu, und nicht jeder, der einfährt, kommt in einer Holzkiste wieder raus, aber die stummen Schreie, die von den Wänden widerhallen, klingen einem immer noch in den Ohren. Wenn man sie denn hören kann. Und ich kann.« Sie ließ die Schnupftabakdose aufschnappen. »Noch schlimmer als die Schreie ist allerdings das Trillern der Kanarienvögel in Trakt D, wo die Männer eingesperrt sind, die sich keiner zu hängen traut. Sie sitzen alle in Einzelzellen und haben einen Kanarienvogel zur Gesellschaft.« Frau Prust stopfte sich blitzschnell eine so große Prise beziehungsweise Portion Tabak in die Nase, dass Tiffany sich nicht gewundert hätte, wenn ihr der Tabak zu den Ohren herausgekommen wäre.
Der Deckel schnappte wieder zu. »Bei diesen Männern handelt es sich nicht um ganz gewöhnliche Feld-, Wald-und Großstadtmörder – oh nein. Sie haben Menschen zum Zeitvertreib getötet oder für einen Gott, weil sie nichts Besseres zu tun hatten oder weil das Wetter schlecht war. Sie haben viel schlimmere Taten begangen als nur jemanden umzubringen, aber ein Mord hat immer den Schlusspunkt gesetzt. Du hast ja noch gar nichts von dem Rinderbraten gegessen … Na, eh ich mich schlagen lasse.« Frau Prust spießte sich eine dicke Scheibe von dem mageren Fleisch auf und fuhr fort: »Aber ein Komisches hat die Sache: Diese grausamen Männer haben ihre Kanarienvögel gehegt und gepflegt, und sie haben geweint, wenn sie eingegangen sind. Die Wärter meinten dann immer, das wäre alles bloß Heuchelei und davon würde es ihnen eiskalt den Rücken runterlaufen. Aber ich hab da so meine Zweifel. Als junges Mädchen habe ich für die Wärter öfter Besorgungen erledigt, und wenn ich dann vor den großen, schweren Türen stand, hinter denen die Vögelchen trillerten, hab ich mich immer gefragt, was denn wohl den Unterschied ausmacht zwischen einem guten Mann und einem, der so böse ist, dass kein Henker der Stadt – noch nicht einmal mein Vater, der einen Verurteilten in unter siebeneinhalb Sekunden aus seiner Zelle raus- und ins Jenseits reinbefördern konnte – es gewagt hat, ihm die Schlinge um den Hals zu legen, aus Angst, er könne den Feuern des Bösen entkommen und voller Rachsucht zurückkehren.« Frau Prust brach ab. Sie schüttelte sich, als müsste sie alte Erinnerungen abwerfen. »So sieht das Leben bei uns in der großen Stadt aus, mein Kind; es ist kein so duftendes Primelbeet wie bei euch auf dem Land.«
Tiffany gefiel es zwar nicht besonders, schon wieder »mein Kind« genannt zu werden, aber etwas anderes gefiel ihr noch viel weniger. »Duftendes Primelbeet?«, sagte sie. »Wohl kaum. Erst vor ein paar Tagen musste ich einen Mann vom Seil schneiden, der sich aufgehängt hatte.« Und dann erzählte sie Frau Prust alles über Herrn Micker und Amber. Und über das Brennnesselsträußchen.
»Und dein Vater hat dir das mit den Prügeln erzählt?«, fragte Frau Prust. »Früher oder später schlägt einem so was auf die Seele.«
Das Essen hatte geschmeckt, der Wein tat seine Wirkung. Und das Stroh war um einiges sauberer, als man hätte erwarten können. Es war ein langer Tag gewesen – mal wieder. »Können wir jetzt ein bisschen schlafen?«, fragte Tiffany. »Bitte. Mein Vater sagt immer, am nächsten Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.«
Frau Prust antwortete nicht gleich. »Wenn ich mir das recht überlege«, sagte sie schließlich, »würde ich mal behaupten, dass dein Vater falsch liegt.«
Tiffany ließ sich von der Müdigkeit einhüllen. Sie träumte von Kanarienvögeln, die im Dunkeln sangen. Und vielleicht war es nur Einbildung, aber einmal glaubte sie aufzuwachen und den Schatten einer alten Frau über sich gebeugt zu sehen, die sie betrachtete. Frau Prust war es mit Sicherheit nicht, denn die schnarchte wie ein Holzfäller. Die Gestalt blieb noch einen Augenblick, dann verschwand sie. Tiffany erinnerte sich: Die Welt ist voller Omen. Man sucht sich diejenigen aus, die einem am sympathischsten sind.
8
Des Königs Nacken
Tiffany wurde vom Quietschen der Zellentür geweckt. Sie setzte sich auf und blickte sich um. Frau Prust schlief noch. Sie schnarchte so heftig, dass ihre Nase wackelte. Korrigiere: Frau Prust schien noch zu schlafen. Tiffany mochte sie irgendwie, aber konnte sie ihr auch trauen? Manchmal hatte sie fast den Eindruck… als könnte sie ihre Gedanken lesen.
»Ich lese keine Gedanken.« Frau Prust wälzte sich auf die andere
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