Das Mitternachtskleid
Seite.
»Frau Prust!«
Die alte Hexe setzte sich hin und fing an, Strohhalme von ihrem Kleid zu klauben. »Ich lese keine Gedanken.« Sie schnippte die Halme auf den Boden. »Ich bin mit großen, um nicht zu sagen immensen Kräften gesegnet, aber keineswegs mit übernatürlichen. Vergiss das bitte nicht. Ob die uns hier wohl ein warmes Frühstück servieren? Ich will es schwer hoffen.«
»Null Problemo – was hättste denn gern?«
Sie sahen nach oben. Die Größten hockten auf dem Deckenbalken und baumelten vergnügt mit den Füßen.
Tiffany seufzte. »Würdet ihr mich anlügen, wenn ich euch frage, was ihr letzte Nacht gemacht habt?«
»Auf gar keinen Fall, großes Größten-Ehrenwort«, antwortete Rob Irgendwer und legte die Hand auf die Stelle, wo er sein Herz vermutete.
»Eindeutiger geht’s nimmer«, sagte Frau Prust und stand auf.
Kopfschüttelnd seufzte Tiffany noch einmal. »Nein, ganz so einfach ist es leider nicht.« Sie hob den Blick. »Rob Irgendwer, war das gerade eine ehrliche Antwort? Das frage ich dich als eure Hexe der Hügel.«
»Och, doch.«
»Und diese Antwort?«
»Och, doch.«
»Und diese?«
»Och, doch.«
»Und diese?«
»Och … na ja. Bloß ne klitzekleine Lüge; gilt fast noch nich mal als Geflunker. Is aber besser, du weißt von nix.«
Tiffany wandte sich Frau Prust zu, die neben ihr stand und sich eins ins Fäustchen griente. »In den Augen der Wir-sind-die-Größten ist die Wahrheit ein derart kostbares Gut, dass man sparsam damit umgehen muss«, sagte sie entschuldigend.
»Ein Völkchen ganz nach meinem Herzen«, antwortete Frau Prust. »Wenn ich denn eins hätte, ein Herz«, fügte sie hastig hinzu.
Schwere Schritte kamen näher, immer näher und immer schwerer. Sie gehörten einem hochgewachsenen, zaundürren Wachmann, der Frau Prust mit einem höflichen Tippen an den Helm und Tiffany mit einem Kopfnicken begrüßte.
»Guten Morgen, die Damen! Ich bin der Gefreite Schellfisch. Ich darf Ihnen mitteilen, dass ich Ihnen mitteilen darf, dass Sie mit einer Ermahnung davonkommen und gehen dürfen«, begann er. »Auch wenn ich Ihnen sagen muss, dass ich Ihnen nicht genau sagen kann, worauf sich diese Ermahnung genau bezieht, würde ich mich an Ihrer Stelle im Großen und Ganzen wie auch im Allgemeinen ganz allgemein als ermahnt betrachten und mir diese Ermahnung eine Warnung sein lassen und – nichts für ungut – eine Lehre.« Er räusperte sich und fuhr mit einem ängstlichen Seitenblick auf Frau Prust fort: »Kommandeur Mumm hat mich gebeten, Ihnen unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass die Individuen, die kollektiv unter dem Namen Wir-sind-die-Größten bekannt sind, die Stadt bis Sonnenuntergang zu verlassen haben.«
Auf dem Deckenbalken erhob sich einstimmiger Protest. In Sachen gekränkter Unschuld waren sie mindestens genauso gut wie in Sachen Trunkenheit und Dieberei, fand Tiffany.
»Immer auf die Kleinen!«
»Das warn wir nich! Das war ‘n großer Junge, und der is weggelaufen!«
»Ich war überhaupt nich da! Da kannste die andern fragen! Die warn auch nich da!«
Und was dergleichen faule Ausreden mehr waren.
Tiffany schlug mit ihrem Blechteller gegen die Gitterstäbe, bis sie endlich Ruhe gaben. Dann sagte sie: »Entschuldigen Sie bitte, Gefreiter Schellfisch. Glauben Sie mir, es tut ihnen bestimmt sehr leid, was sie aus dem Wirtshaus gemacht haben – « begann sie, doch er winkte ab.
»Wenn Sie meinen Rat hören wollen, junge Dame, machen Sie sich allesamt möglichst unauffällig davon, ohne das Wort ›Wirtshaus‹ noch einmal in den Mund zu nehmen.«
»Aber sie haben es doch schließlich verwüstet, und – «
Wieder unterbrach der Gefreite sie. »Ich bin heute Morgen am Königskopf vorbeigekommen«, sagte er. »Und er war definitiv nicht verwüstet. Er zieht sogar Schaulustige an. Die ganze Stadt wird ihn sich ansehen wollen. Der Königskopf steht eigentlich genauso da wie immer, mit nur einem winzig kleinen Unterschied: Er steht jetzt umgedreht da.«
»Was meinen Sie mit ›umgedreht‹?«, fragte Frau Prust. »Verkehrt rum«, antwortete der Polizist geduldig. »Und Sie können sich sicher vorstellen, dass die Leute das Wirtshaus auch nicht mehr des Königs Kopf nennen.«
Tiffany runzelte die Stirn. »Wie denn dann? Des Königs Nacken ?«
Der Gefreite Schellfisch schmunzelte. »Daran erkennt man doch gleich, was für eine wohlerzogene junge Dame Sie sind. Nein, Fräulein, die meisten Leute auf der Straße nennen es des Königs –
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