Das Monster von Bozen
einen Stehtisch, von dem aus er den Bahnsteig im Blickfeld hatte, und bestellte sich einen Caffè Doppio. Erst nach einer geschlagenen halben Stunde kam Gianna angerannt. Sie wirkte angespannt und sauer, sah noch strenger und unnahbarer aus als sonst, wenn sie direkt aus der Kanzlei kam.
»Sorry, Vincenzo«, – kein »schöner Kommissar« –, »ich habe einen dermaßen miesen Fall, das kannst du dir nicht vorstellen. So ein widerwärtiger Schmerbauch versucht, seine Frau, die er selbst in den Wind geschossen hat, auch noch abzuzocken. Wir sollen die Arme anwaltlich vertreten, die kam gar nicht dazu, mir darzulegen, was passiert ist, weil sie ununterbrochen geheult hat. Das ist das Allerletzte. Tut mir leid, dass ich dich nicht wenigstens auf dem Handy angerufen habe.«
Vincenzo grinste unbeholfen und murmelte »Kein Problem«, aber er ahnte, dass seine Annäherungsversuche an diesem Wochenende wirkungslos verpuffen würden.
Auch wenn es Vincenzo nicht sonderlich interessierte, gab es zunächst nur ein Thema, die arme Frau des Schmerbauchs. Auf sein Drängen hin gingen sie schließlich in eine kleine Trattoria, bestellten ein paar Antipasti und eine Flasche Amarone. Vincenzo hoffte, Gianna allmählich auf interessantere Themen lenken zu können. In der Tat entspannte sie sich, und während sie aßen, erkundigte sie sich, wie seine Woche gewesen sei.
Ermutigt durch diesen Stimmungswechsel wagte er seinen Vorstoß: »Du, Gianna, ich hab mir das alles noch mal durch den Kopf gehen lassen, mit uns, meine ich. Sieh mal, nach Mailand könntest du jederzeit zurück, die Kanzlei gehört schließlich deinen Eltern. Sie kennen mich, wissen, dass es uns ernst ist. Und sie sind Familienmenschen. Sie werden dir immer ein Hintertürchen offenhalten. Ich könnte in Bozen …« Weiter kam er nicht.
Genervt unterbrach ihn Gianna: »Vincenzo, wir haben das doch zigmal durchgekaut. Wir sind noch nicht so lange zusammen, als dass ich eine derartig weitreichende berufliche Entscheidung treffen würde, und das, um in die Provinz zu ziehen. Meine Eltern kennen dich außerdem nicht wirklich, denn meinem Vater gehst du konsequent aus dem Weg. Lass uns den Amarone trinken, bei mir gibt es dann noch einen Absacker. Ich muss übrigens morgen noch mal in die Kanzlei. Wir haben nur noch eine kurze Entgegnungsfrist.«
Damit war das Thema erledigt. Schon um zehn lagen sie im Bett. Während Gianna sofort einschlief, lag Vincenzo noch lange wach und grübelte. Wieder einmal war er der Gianna begegnet, die ihm unerreichbar weit weg vorkam. Warum hatte sie bloß diese zwei Gesichter? Er konnte verstehen, dass sie sich über einen solchen Fall aufregte. Aber warum gelang es ihr nicht umzuschalten, wenn sie ihn sah? Trotz ihrer kurzen Auseinandersetzung hätten sie sich einen schönen Abend machen können. Natürlich, das musste er sich selbst ankreiden, eine Diskussion über die Zukunft hätte er in dieser Situation besser nicht anstoßen sollen. Aber was hätte das ihrem Fall geschadet, wenn sie zwar um zehn im Bett gewesen wären, aber erst um Mitternacht geschlafen hätten? Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sich das ändern würde, wenn sie länger zusammen waren.
***
Am Freitagabend waren die Bürogebäude der SSP verlassen. Es war schon fast Nacht, durch die vielen, hohen Bäume auf dem riesigen parkähnlichen Grundstück am Rand von Bozen lag das Gebäude immer etwas früher im Dunkeln. Lediglich die spärliche Außenbeleuchtung spendete fahles Licht. Auf dem weitläufigen Parkplatz standen nur noch wenige Autos. Es war still und ungewöhnlich warm, in den Grünanlagen zirpten die Grillen. Die Schwüle ließ auch nachts nicht mehr von der Stadt ab.
Da trat in der Nähe der Straßenzufahrt mit ihrem großen elektrischen Tor unvermittelt eine Gestalt aus dem Schatten eines Baumes. Sie war fast schwarz gekleidet und verschmolz beinahe mit der Dunkelheit. Trotz des lauen Abends trug sie eine Wollmütze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Langsam und stets im Schutz der Bäume bewegte sich die dunkle Gestalt rechts vom Zufahrtsweg auf das imposante Eingangsportal zu, blickte sich immer wieder um. Das Zirpen der Insekten verstummte für einen Augenblick. Sofort verbarg sich der mysteriöse Besucher hinter einem Baum.
Als das Konzert der Grillen erneut einsetzte, huschte die Gestalt weiter. Wenige Meter vor dem Eingangsportal blieb sie plötzlich stehen, ging in die Hocke und schaute sich nach allen Seiten um. Nachdem sie sich
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