Das Monster von Moskau
Wein beschaffte ihnen ein Bekannter, der seinen Beruf als Importeur angab. Was er genau einführte, entzog sich ihrer Kenntnis, doch in diesem Land musste jeder zusehen, wie er zurechtkam. Da drückte man schon ein Auge zu.
Sie aß in der Küche. Die Türen zu den meisten Räumen standen offen, und deshalb hörte Karina auch das leise Pling. Der Ton kündigte ihr eine Mail an.
Zwei Computer verteilten sich in den Arbeitszimmern der beiden Bewohner. Karina lief mit dem Rotweinglas in ihr Büro und öffnete die Mail. Sie stammte aus London, von Glenda Perkins, die ihr mitteilte, dass John die erste Maschine nehmen würde. Nach Moskauer Zeit würde er gegen Mittag eintreffen.
Karina freute sich und lächelte, bevor sie noch einen Schluck von dem dunkelroten Wein nahm. Sie trank gern Burgunder, und auch jetzt genoss sie den Geschmack.
Ihre Laune steigerte sich. Sie war davon überzeugt, dass sie und John dem Spuk ein Ende bereiten würden. Ganz im Gegensatz zu dem alten Valentin. Der hatte sie nur abwehrend angeschaut, als sie ihm von John Sinclair erzählt hatte.
»Ein Fremder?«, hatte er geflüstert.
»Nein, ein Freund.«
»Trotzdem ist er ein Fremder, der mit der Mentalität unseres Volkes nicht vertraut ist.«
»Er ist trotzdem gut. Du kannst mir vertrauen. Wir beide haben schon manchen Fisch gefangen.«
»Du musst es wissen.«
»Keine Sorge, du wirst ihn kennen lernen.«
Sie trank das Glas leer und schüttelte die Erinnerung an das Gespräch ab. Es wäre jetzt an der Zeit gewesen, sich hinzulegen, doch Karina fühlte sich innerlich noch zu durcheinander. Sie hätte kaum Schlaf finden können. Außerdem wollte sie noch ein wenig frische Luft schnappen und dabei die Aussicht genießen.
Sie goss noch einen Schluck Wein in das Glas und zog eine dicke bunte Strickjacke vom Haken, die sie über ihre Schulter legte. So ließ sich auch die kühle Luft ertragen. Da der Wind so gut wie eingeschlafen war, konnte man die Temperatur sogar als recht angenehm bezeichnen.
Sie öffnete die Balkontür und trat hinaus.
Die Wohnung lag in der ersten Etagen. Würde sie weiter oben wohnen, wäre der Blick auf den Kreml perfekter gewesen. Aber sie gab sich auch mit dem zufrieden.
Der Himmel zeigte ein tiefdunkles Blau. Das jedenfalls glaubte sie zu erkennen. Nur dort, wo sich der Regierungssitz befand, breitete sich eine große Lichtglocke aus, die wie ein Fächer wirkte, der allerdings in die Höhe stieg.
Die Balkonmöbel warteten unter einer Plane versteckt auf den Sommer. Karina atmete die kalte Luft ein und trank auch hin und wieder einen Schluck. Sie ging auf dem langen Balkon auf und ab.
Mal schaute sie zum Himmel, mal nach unten, wo der dunkle Park wie ein riesengroßes Versteck aussah. Hin und wieder trank sie einen Schluck Wein, während sich in ihrem Kopf auch weiterhin die Gedanken bewegten und sich dabei nur um ein Thema drehten.
Es ging um die Karwoche. Um die Zeit der reuigen Toten, die endlich ihre Ruhe finden wollten.
Was stimmte daran?
Karina wusste es nicht. Sie hatte noch keinen dieser seltsamen Toten zu Gesicht bekommen. Aber das Monster war in der Nähe gewesen und hatte sie auf das Eis gelockt.
In der Mitte der Brüstung blieb sie stehen und schaute auf die leeren Blumenkästen. Auch bei ihnen würde sich im Sommer etwas verändern. Karina wusste nur noch nicht, welche Blumen sie einpflanzen würde. So etwas entschied sie immer spontan.
Auch eine Riesenstadt wie Moskau musste mal durchatmen. Das geschah um diese Zeit. Der Lärmpegel hatte sich gelegt. Ruhig war es nicht geworden. Autos fuhren immer. Die Geräusche erreichten sie wie eine nie abreißende Musik.
Sie schaute über die Brüstung hinweg in die Tiefe. Ein dunkler Untergrund breitete sich aus. Unterschiede waren dort kaum auszumachen. Noch reckten die Bäume ihre kahlen Äste in die Höhe, aber auch das würde sich bald ändern. Da filterte das Laub die heißen Sonnenstrahlen im Hochsommer. So war die Lage des Balkons schon günstig.
Um die Bäume herum hatte sich Strauchwerk ausgebreitet. Der Erdboden war mit einem harten Teppich aus Wintergras bedeckt. Ein Hausmeister, der gleichzeitig als Gärtner fungierte und mit seiner Frau im Souterrain lebte, sorgte dafür.
Im Winter hatte er weniger draußen zu tun. Da musste er sich darum kümmern, dass im Haus alles stimmte und keine Leitungen einfroren. Noch ein Schluck.
Das Glas war fast leer. Außerdem fror sie trotz der übergeworfenen Jacke. Es war an der Zeit, dass sie wieder
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