Das Monster von Moskau
auflösten.
Wanja kam sich vor wie jemand, der in der Fremde stand und nicht mehr aus ihr herausfand.
Sie versuchte es noch einmal. Ein letztes Mal. Es musste doch klappen. Der Großvater konnte sie doch nicht im Stich lassen. Sie war immer sein Liebling gewesen.
Der Name wehte wie ein gequälter Schrei über das Grab hinweg. Das Mädchen hatte die Hände zu kleinen Fäusten geballt. Es wollte einen Erfolg erreichen. Der Schrei musste selbst im Totenreich zu hören sein.
Aber der Großvater schwieg.
Dafür hörte sie ein anderes Geräusch. Beim ersten Mal nahm sie es nicht richtig wahr, aber beim zweiten Hören erschrak sie zutiefst. Das Lachen klang abgrundtief böse.
Wanja schaute nach vorn. Von dort hatte sie es gehört. Aber da wuchs nur der Baum mit dem sehr dicken, krummen Stamm. In Kopfhöhe etwa befand sich eine Astgabel, die als Lücke ein Dreieck hinterließ, und genau in diesem Dreieck erschien eine Fratze.
Sie gehörte Kozak!
***
Wanja stand auf der Stelle und schaute auf das, was sie nicht glauben wollte, was aber trotzdem vorhanden war. Die Fratze füllte das natürliche Dreieck aus Zweigen aus.
Ein blasser, kahlköpfiger Schädel. Ein breites Maul. Augen mit einem leeren, aber trotzdem kalten Blick. Eine Nase, die unten breit zulief und über einer dünnen Oberlippe schwebte.
Das Gesicht mit seinen Augen kannte nur ein Ziel: Wanja. Der Blick saugte sich an ihrem Körper fest, und Wanja fühlte sich wie jemand, der nicht mehr allein entscheiden konnte. Von diesem Blick ging etwas Zwingendes, Böses und gleichzeitig Tödliches aus, das in ihr nur eine tiefe Angst hinterlassen konnte.
Die Erwachsenen aus dem Ort hatten das Kind nicht über alle Grausamkeiten aufgeklärt, doch ihr brauchte niemand zu sagen, dass sie in das Gesicht eines Mörders schaute. Und sie war fest davon überzeugt, dass sie den Mörder der Großmutter vor sich sah.
Er glotzte sie an.
Er grinste.
In diesem Gesichtsausdruck las sie die Nachricht, dass er sie töten würde. Die gesamte Familie auslöschen. Dafür sorgen, dass sie ihren Platz hier auf dem Friedhof bekam.
Wanja begann zu zittern. Der leichte Optimismus war vergangen. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass ihr Großvater ihr nicht helfen konnte. Er war tot, doch sein Mörder lebte noch.
Es wäre an der Zeit gewesen, wegzulaufen. Zu rennen, was die kleinen Beine hergaben, aber der Täter würde sie trotzdem einholen. Er war größer und viel schneller.
Noch schaute er sie durch das natürliche Dreieck hinweg an. Als er den Mund weiter öffnete und seine Zunge sehen ließ, sah diese aus wie ein rosiger Lappen.
Dann bewegte er sich.
Langsam drückte er sich höher. Das Gesicht verschwand für einen Moment. Im Dreieck wurde die dunkle Kleidung sichtbar, die sich allerdings rasch zur Seite bewegte, weil der Unhold um den Baum herumging, um an das Kind zu gelangen.
Wanja’s Beine waren schrecklich schwer. Es war ihr unmöglich, sie anzuheben. Sie schaute nach vorn und glaubte doch, ins Leere zu blicken.
Eine Sekunde später sah sie das lebende Verhängnis in seiner gesamten Größe. Aufgerichtet stand diese Gestalt an der Rückseite des Grabes und glotzte nach vorn. Wanja sah die Hände mit den langen Fingern, auf denen nicht ein Haar wuchs. Wegen der bleichen und dünnen Haut sahen sie aus wie Knochen.
Der Mörder ging einen Schritt vor.
Und Wanja unternahm einen letzten verzweifelten Versuch.
»Großvater...«, rief sie...
***
Karina Grischin stand neben mir und schauderte zusammen, als sie über den Teich schaute auf dessen Oberfläche die dünne Eisschicht schimmerte. Nicht so in der unmittelbaren Nähe der Ufer. Da war sie bereits gebrochen, und wir schauten gegen dunkles Wasser.
»Hier hätte es mich fast erwischt, John. Ich weiß nicht genau, wie tief der Teich ist, aber ich wäre bestimmt elendig ertrunken. Dafür hätte das Monstrum schon gesorgt.«
»Ja«, sagte ich leise.
Sie zuckte die Achseln. »Manchmal muss man sich eben erinnern, um sich darüber zu freuen, dass man noch lebt.«
»Und wer lebt im Wasser?«
Sie lächelte. »Das ist eine komische Frage, John, aber du triffst damit genau das, was man sich hier erzählt. Auch im Wasser gibt es Geister. Das sind die Nixen, und sie sind ebenso präsent wie die Hexen und die Waldgeister, die in der Gestalt schöner Frauen daherkommen und den Männern den Kopf verdrehen.« Sie hob die Schultern. »Es gibt so vieles, was man sich hier erzählt und auch erlebt hat. Aber damit haben wir
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