Das Monster von Moskau
ihn.«
Es wurde wieder still. Kein Flehen, kein Schrei mehr und auch kein Rufen...
Leider machten uns der Dunst und auch die Dämmerung einen Strich durch die Rechnung. Bei normalem Licht hätten wir längst etwas erkennen können, so aber mussten wir näher heran. Hinzu kamen die recht hohen Kreuze und Grabsteine. Für einen aufrecht stehenden Erwachsenen waren sie nicht eben eine Deckung. Für ein Kind schon. Auch deshalb war es schwer, das Kind zu entdecken.
Karina, die mit langen Schritten neben mir herging, wies einige Male hektisch nach rechts. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist die Stimme von dort gekommen.«
»Mist.«
»Warum?«
»Das ist der dunkelste Ort auf dem Gelände.«
»Ja, da steht der Baum und...«
Wir hörten beide den Ruf. Und das Wort, das Wanja da schrie, verstand auch ich.
»Großvater!«
Das war schon kein Ruf mehr. Das war ein Schrei. Und in ihm konzentrierte sich all die Angst, die das Kind empfand. Bestimmt fürchtete Wanja sich nicht vor der schaurigen Umgebung und auch nicht vor dem Geist ihres Großvaters. Diese panische Angst musste einen anderen Grund haben – das Monster von Moskau...
Wanja bewegte sich nicht. Sie hätte es gern getan, aber sie brachte es nicht fertig. Die Gestalt, die plötzlich in voller Größe vor ihr stand, war einfach grauenvoll. Vom blanken Kopf bis hin zu den Fußspitzen ein wahr gewordenes Bild ihrer Angstträume, die sie immer dann überfallen hatten, wenn sie Märchen las.
Das hier war kein Märchen.
Ein echter Friedhof, ein echtes Grab, ein echtes Monster, und auch ich bin echt!, dachte sie.
Es kam. Es grinste. Und es bewegte sich mit einem noch längeren Schritt, der Ähnlichkeit mit dem eines anschleichenden Tigers besaß. Das hatte sie sich im Zoo genau anschauen können. Er war genauso gefährlich. Er wollte töten. Er hatte ihre Großmutter umgebracht, und sie wunderte sich, dass sie überhaupt sprechen konnte.
»Was willst du?«
»Dein Leben...«
»Nein, nein, es ist genug. Die Toten sollen nicht mehr werden. Ich will es nicht...«
Er lachte ihr kichernd entgegen. »Heute ist die Nacht der Toten. Heute bereuen sie ihre Sünden. Heute werden sie sich an der Kirche sammeln, aber ich werde auch dabei sein und mein Zeichen setzen. Ich bin der wahre Herrscher. Ich bin der Wolf, ich bin die Bestie und der Teufel in einer Person.«
»Und wer bist du wirklich?«
Sie erhielt eine Antwort. »Ich bin der böse, wandernde Tote. Ich war schon zu meinen Lebzeiten verflucht. Ich war ein Wechselbalg, ein verdammtes Kind. Ich war ein Ketzer und Gottesleugner. Ich bin gestorben, aber ich kann nicht wirklich sterben. Ich wandere durch diese Welt und bringe dem Teufel die Früchte. Der Ruhelose ist unterwegs, und er wird dafür sorgen, dass die anderen Menschen ebenfalls keine Ruhe finden, ebenso wie die Toten...«
»Nein, nein, du musst gehen...«
Kozak lachte nur. Er winkte. Er leckte über seine Lippen, setzte zu einem Sprung an – und verharrte mitten in der Bewegung, denn auch er hatte den Ruf vernommen.
»Wanja...!«
***
Karina Grischin hatte es nicht mehr ausgehalten und deshalb so laut geschrien, obwohl wir den Friedhof noch nicht erreicht hatten. Wir hatten Wanja nicht mal gesehen, doch der eine Ruf hatte uns in seinem Tonfall klar gemacht, in welch einer Lage sie steckte.
Es war alles andere als eine große Entfernung, die wir zurücklegen mussten, trotzdem dehnte sich die Zeit, und ich hätte mir gewünscht, dreimal so schnell laufen zu können.
Das schaffte ich nicht.
Es reichte auch so.
Plötzlich lag der Friedhof vor uns. Mit einem langen Sprung überwand ich die Grenze, tauchte sofort nach rechts weg und sah dort eine Bewegung.
Das war nicht Wanja, denn sie hätte ich erkannt. Wer da weghuschte, besaß die Größe eines Erwachsenen, und es war zudem eine sehr dunkle Gestalt. Das Monster?
Ich war etwas schneller als Karina. Ich sah die kleine Wanja, die wie eine starre Säule vor einem Grab stand und ins Leere schaute. Ich huschte an ihr vorbei. Das nächste Ziel war der Baum, der in der Nähe des Grabes stand, denn sein Stamm war breit genug, um einem Flüchtenden Schutz zu geben.
Leider hatte der andere einen Vorsprung. Für mich wurde es kritisch, weil ich nicht an die zähen Äste und Zweige gedacht hatte, die auch sehr tief wuchsen. Erst als sie schmerzhaft mein Gesicht erwischten, wurde es mir klar gemacht.
Der Baum brauchte fast ein kleines Feld für sich selbst. Selbst bei Tageslicht war es in seiner
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