Das Monster von Moskau
unmittelbaren Umgebung schattig und nun richtig düster, denn gegen das Grau der Dämmerung und die Nebelschwaden kann man mit normalem Sehen nicht viel ausrichten.
Das musste auch ich einsehen und blieb stehen, bevor mir irgendwelche Zweige die Gesichtshaut zerkratzten. Ich hörte keine fremden Stimmen, auch nichts, was auf eine schnelle Flucht hingedeutet hätte. Das Monster von Moskau hatte die Gunst der Minute genutzt.
Mir war allerdings klar, dass wir uns noch mal begegnen würden. Und dann würde ich besser darauf vorbereitet sein, das stand fest. Der letzte Blick brachte mir auch nichts Neues, und so drehte ich mich um.
Neben dem Grab standen Karina und das Kind. Wanja presste sich gegen meine russische Freundin, die ihre Arme um den Körper des Mädchens geschlungen hatte. Sie sprach leise auf Wanja ein, die weinte. Das hörte ich, als ich bei ihnen stand.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich. Mehr als diese vier Worte fielen mir im Moment nicht ein.
»Sie hat Glück gehabt, viel Glück. Das verdammte Monster hätte sie eiskalt getötet.«
»Ja«, sagte ich leise. »Warum, Karina, warum passiert das alles? Es muss einen Grund geben. Was will dieses Monstrum damit erreichen?«
»Ich habe es auch nicht gewusst. Bis mir Wanja die Wahrheit erzählte. Sie kennt sie auch erst seit kurzem.«
»Die lautet?«
Karina schaute mich an, als könnte sie es selbst nicht glauben, was sie mir sagen musste. Ich erfuhr, dass Kozak ein Verdammter war. Ein Toter, der dazu verflucht war, nie mehr Ruhe zu finden. Er war alles in einem. Teufel, Hexer, Vampir...
»Und was ist er vorher gewesen?«, unterbrach ich sie. »Er muss doch ein normales Leben geführt haben, ehe er so wurde, wie wir ihn nun mal kennen.«
Jetzt musste sie lachen. »Normales Leben ist gut. Daran kann ich nur nicht glauben. Laut Wanja war er ein Ketzer, Gottesleugner und hat sich letztendlich selbst umgebracht.«
»Verstehe. Das alte Syndrom des Selbstmörders. Einer, der sich dadurch selbst verflucht und im Tod keine Ruhe findet. Weil das so ist, gönnt er den anderen Toten auch keine Ruhe. Das ist seine grauenvolle Logik. Aber nicht neu. So etwas gibt es auch in anderen Mythologien.«
»Jetzt haben wir erst recht einen Grund, ihn endgültig zur Hölle zu schicken!«, sagte Karina.
»Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Wir müssen ihn nur aufstöbern.«
»Er wird zur Kirche gehen.«
»Genau. Und dort werden wir auf ihn warten.«
Der Vorschlag war gut. Nur schien Karina nicht so davon begeistert zu sein. Sie sprach ihre Bedenken auch aus.
»Das können wir alles, John. Aber was passiert mit Wanja? Ich möchte sie nicht allein zurück ins Dorf gehen lassen. Es wird allmählich dunkel. Es kommt genau der Schutz, den das Monster braucht.«
Verflucht, daran hatte ich nicht gedacht. Auf keinen Fall konnten wir Wanja allein gehen lassen. Sie würde zu einem idealen Opfer werden.
Sie meldete sich, weil sie gespürt hatte, dass wir über sie redeten. Wie in der Schule hob sie die Hand und sprach schnell auf Karina Grischin ein, die erst mal nichts tat und nur zuhören.
Wanja sprach sehr schnell. Und sie deutete dabei stets in Richtung Kirche.
»Schon gut«, sagte Karina. Das zumindest verstand auch ich. Sie wandte sich mir zu und nickte. »Es ist klar, John, dass Wanja nicht allein bleiben will.«
»Aha.«
»Sie ist gekommen, um ihren Großvater zu sehen. Nur darum geht es ihr. Sie will ihn erleben, und sie kennt auch die alten Geschichten, die besagen, dass sich die Toten in der Karwoche an der Kirche sammeln, um dort für ihre Sünden zu beten. Und wenn sie dort sind, dann möchte Wanja ebenfalls erscheinen.«
So etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht. Ich blickte das Mädchen an. Der Ausdruck in ihren Augen zeigte den festen Willen, dass sie mit uns gehen würde. Ich wunderte mich sowieso über ihr Verhalten. Es passte nicht zu einem Kind. Wanja hatte in den letzten Stunden grauenhafte Dinge erlebt. Normalerweise hätte sie zusammenbrechen müssen. Schreien, weglaufen, wie auch immer. Dass sie noch so »normal« geblieben war, grenzte für mich an ein kleines Wunder, und ich fragte mich, ob es daran lag, in welcher Umgebung sie aufwuchs. Hier herrschten andere Gesetze als in der Großstadt. Der Tod war präsenter. Er gehörte praktisch zum Leben. Man schloss ihn nicht aus, und das kannten auch die Kinder, denn er war in den Märchen und Legenden ständig präsent. Also sahen sie den Tod mit anderen Augen an und trauerten auch auf ihre
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