Das Monstrum
Vornamen fragte, antwortete er »Jonathan«. Das war Davids zweiter Vorname.
Jetzt schlief er praktisch rund um die Uhr. Manchmal machte er die Augen auf und schien Ev oder eine der Schwestern sogar anzusehen, aber wenn sie ihn ansprachen,
dann lächelte er nur sein süßes Hilly-Brown-Lächeln und trieb wieder davon.
Entschwebte. Er lag da wie ein verzauberter Prinz in einem Märchenschloss, und nur die Tropfflasche über seinem Kopf und die gelegentlichen Durchsagen auf dem Korridor störten die Illusion.
Anfangs hatte an der neurologischen Front große Aufregung geherrscht; ein dunkler, unspezifischer Schatten in der Gegend von Hillys Großhirnrinde hatte darauf hingedeutet, dass die seltsame Benommenheit des Jungen von einem Gehirntumor herrühren könnte. Aber als sie Hilly zwei Tage später wieder röntgten (seine Platten waren auf Eis gelegt worden, erklärte der Röntgentechniker, weil niemand damit rechnete, im Gehirn eines Zehnjährigen einen Tumor zu finden, und vorher nichts darauf hingedeutet hatte), war der Schatten verschwunden. Der Neurologe hatte mit dem Röntgentechniker konferiert, und Ev glaubte der defensiven Haltung des Technikers zu entnehmen, dass er Federn hatte lassen müssen. Der Neurologe versicherte ihm, dass man noch einen Satz Platten anfertigen würde, aber er war sicher, das Ergebnis würde negativ sein. Der erste Satz, sagte er, musste beschädigt gewesen sein.
»Ich hatte gleich vermutet, dass etwas durcheinander war«, sagte er zu Ev.
»Warum?«
Der Neurologe, ein großer Mann mit feuerrotem Bart, lächelte. »Weil dieser Schatten riesig war. Um ganz offen zu sein, ein Kind mit einem so großen Gehirntumor hätte schon ausgesprochen lange ein ausgesprochen krankes Kind sein müssen … wenn es überhaupt noch am Leben wäre.«
»Ich verstehe. Dann wissen Sie also immer noch nicht, was mit Hilly los ist?«
»Wir verfolgen zwei oder drei Möglichkeiten«, sagte der Neurologe, aber sein Lächeln wurde vage, er wandte den Blick von Ev ab, und am nächsten Tag erschien die Kinderpsychologin wieder. Die Kinderpsychologin war eine sehr dicke Frau mit sehr dunklem schwarzem Haar. Sie wollte wissen, wo Hillys Eltern waren.
»Sie versuchen, ihren anderen Sohn zu finden.« Ev nahm an, dass ihr das genügen würde.
Es genügte ihr nicht. »Rufen Sie sie an und sagen Sie ihnen, ich brauche ihre Hilfe dabei, diesen hier zu finden.«
Sie kamen, waren aber keine Hilfe. Sie hatten sich verändert; sie waren seltsam geworden. Das spürte auch die Kinderpsychologin, die nach einigen anfänglichen Fragen zurückwich – Ev konnte buchstäblich spüren, wie sie es tat. Ev selbst musste sich zusammennehmen, um nicht aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Er wollte ihre seltsamen Blicke nicht auf sich spüren; unter ihren Blicken fühlte er sich, als wäre er irgendwie für etwas gezeichnet. Die Frau in der karierten Bluse und den verblichenen Jeans war seine Tochter gewesen und sie sah immer noch wie seine Tochter aus, aber das war sie nicht, nicht mehr. Der größte Teil von Marie war tot, und der Rest starb rasch.
Die Kinderpsychologin hatte sie nicht mehr hergebeten.
Seither war sie zweimal erschienen, um sich Hilly anzusehen. Zum zweiten Mal am Sonntagnachmittag, an dem Tag, bevor das Rathaus von Haven in die Luft flog.
»Was haben sie ihm zu essen gegeben?«, fragte sie unvermittelt.
Ev hatte im Schein der warmen Nachmittagssonne am Fenster gesessen und beinahe gedöst. Die Frage der dicken Frau weckte ihn. »Was?«
»Was haben sie ihm zu essen gegeben?«
»Nun, normales Essen«, sagte er.
»Das bezweifle ich.«
»Müssen Sie nicht«, sagte er. »Ich hab viele Mahlzeiten mit ihnen eingenommen, ich weiß es. Warum fragen Sie?«
»Weil zehn seiner Zähne fehlen«, sagte sie kurz angebunden.
7
Trotz des dumpfen Pochens der Arthritis ballte Ev die Faust und schlug damit heftig auf ein Bein.
Was wirst du tun, alter Mann? David ist fort, und es wäre einfacher, wenn du dir einreden könntest, dass er wirklich tot ist, nicht?
Ja. Das hätte alles einfacher gemacht. Trauriger, aber einfacher. Aber das konnte er nicht glauben. Ein Teil von ihm war immer noch davon überzeugt, dass David am Leben war. Vielleicht war es nur Wunschdenken, aber das glaubte Ev nicht, dazu hatte er sich zu seiner Zeit oft genug davon verleiten lassen, aber diesmal fühlte es sich nicht so an. Es war eine starke, pulsierende Eingebung in seinem Kopf: David lebt. Er ist verschwunden, und er schwebt in
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