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Das Moor Des Vergessens

Das Moor Des Vergessens

Titel: Das Moor Des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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hob sich gegen seine Jeans ab. Tenille wich zurück, die Füße gegen den Sitz der Bank gestemmt und halb geduckt, um bei der ersten Gelegenheit loszulaufen. Sie spürte, wie ihr vor lauter Panik der Schweiß über den Rücken lief, und nahm ihre eigene üble Ausdünstung wahr. Der Mann schob sich an sie heran. »Komm, kleiner Wichser, zier dich nich so. Ich will ja nur einen geblasen haben, ich zahl dich ja dafür, zum Kuckuck.« Er wollte ihren Kopf packen, aber sie wich ihm aus und verlor fast das Gleichgewicht.
    Dann war seine Hand zwischen ihren Beinen. Doch plötzlich ließ er sie los und wich zurück. »Du kleiner Scheißer«, rief er. »Du bist ja 'ne verdammte Schlampe. Willst du mich verarschen, oder was?«
    Er zog seinen Reißverschluss hoch, und das war ihre Chance, weglaufen zu können. Als sie von der Bank sprang und an ihm vorbeizuschlüpfen versuchte, traf seine Faust ihre Schulter, aber der Schlag war nicht fest genug, um sie aufzuhalten. Sie rannte in die Dunkelheit hinaus und warf sich heftig schluchzend zwischen die wirren Zweige eines Rhododendrongebüschs, kämpfte sich zur Mitte des Gestrüpps durch und rollte sich mit rasendem Puls und laut keuchend zusammen. Ihre Augen brannten vor zurückgehaltenen Tränen, und es dauerte lange, bis sie ruhig wurde, aber schließlich gelang es ihr doch, wieder einzuschlafen. Sie schlief nur leicht und wachte öfter auf. Jedes Geräusch in der Nacht genügte, um ihre Ruhe zu stören und sie aufzuwecken. Als das Licht endlich langsam am Horizont heraufzog, war Tenille mehr als bereit, den Staub von Lancaster abzuschütteln. Mit einem frühen Bus fuhr sie nach Kendal, und dann hatte sie der öffentliche Nahverkehr der Entdeckung des Lake Districts näher gebracht. Sie hatte zwar Janes Fotos gesehen und in Gedichten und Büchern darüber gelesen, aber nichts hatte sie auf das hier vorbereitet. Sie hatte immer einen gewissen Zweifel gehegt, ob eine Landschaft wirklich solche tiefen Gefühle auslösen könne. Tenille war selten aus London herausgekommen, und wenn, dann nur in Seebäder wie Southend und Clacton gefahren. Ihre eigene begrenzte Erfahrung hatte ihren Augen und ihrem Herzen keine Inspiration geboten, mit der sie leben konnte. Aber als sich die Schönheit Meile um Meile vor ihr ausbreitete, fing sie an, einen ersten Funken von Verständnis für die Leidenschaft zu spüren, die allein daher kam, dass man einen solchen Ort wie den hier erleben durfte. Sie wollte plötzlich unbedingt den Bus verlassen, in die Landschaft hinauslaufen und sie in sich aufnehmen. Es war so überwältigend, dass sie vergaß, wie müde, hungrig und schmutzig sie war.
    Aber jetzt, zwei Stunden später, war die erste Begeisterung über die Schönheit der Natur verflogen, und ihre Beine spürten die Meilen, die sie zurückgelegt hatten. Sie fand einen flachen Felsen, setzte sich hin und war wieder mal verwundert, wie menschenleer es hier war. Grasmere war voller Touristen gewesen, aber als sie sich zehn Minuten von dem Dorf entfernt hatte, war es, als hätte sie die ganze Menschheit hinter sich gelassen. Nie hatte Tenille so viel Platz für sich allein gehabt, und beim Abstieg war sie nur an zwei anderen Menschen vorbeigekommen. Sie waren so schnell aufgetaucht, dass sie nichts tun konnte, um ihnen auszuweichen, und sie war erstaunt gewesen, dass sie ihr zugelächelt und gesagt hatten: »Herrlicher Tag für so was, nicht?« Sie hatte als Antwort den Kopf gesenkt, denn sie war nicht sicher, was man in solchen Situationen tat. Was sollte sie erwidern? Wenn sie etwas sagte, würden sie das als eine Aufforderung zur Unterhaltung verstehen? Aber dann waren sie an ihr vorbeigelaufen, und ihre Stiefel knirschten auf den losen Steinen am Rande des Weges. Jetzt war sie wieder allein, außer dass ab und zu ein Vogel über ihr kreiste. Tenille studierte die Karte und versuchte herauszufinden, wo sie war. Nach und nach fing sie an, den Zusammenhang zwischen den auf der Karte dargestellten Einzelheiten und der Wirklichkeit zu erkennen. Vor ihr war eine leichte Erhebung. Wenn sie die bewältigt hatte, müsste sie Fellhead sehen. Sie steckte die Karte in ihren Rucksack zurück. Ihr war heiß, und sie wünschte, sie hätte noch genug Geld, um sich Wasser und etwas zu essen zu kaufen. Aber sie hatte nur noch ein paar Pfund, und die wollte sie nicht ausgeben. Zuvor hatte sie einen Bach überquert und überlegt, ob sie daraus trinken sollte, aber sie hatte Angst gehabt, dass das Wasser verschmutzt

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