Das Moor Des Vergessens
denen wir sprechen wollten, Nachfahren der letzten Person, die das Manuskript hatte. Und diese alten Leutchen geben alle einfach den Geist auf. Das ist doch ein wenig unheimlich.«
»Unerklärliche Häufung von Todesfällen bei älteren Menschen gibt es von Zeit zu Zeit. Es liegt immer ein Grund vor - Herz, was auch immer -, aber oft weist keine besondere Ursache darauf hin, warum sie heute und nicht an einem anderen Tag gestorben sind.« Sie legte Jane eine Hand auf den Arm. »Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Kommen Sie, ich stelle Ihnen den Moorpiraten vor. Wir sind für heute mit dem Filmen fertig, und die Studenten kommen erst in einer Weile, also können wir ihn für uns allein haben.« Jane folgte River in einen Raum, der als Kulisse eines viktorianischen Operationssaals hätte dienen können. Auf einem Tisch in der Mitte lag ein überraschend kleines Bündel. Ohne Muskeln und Fleisch sah der Moorpirat wie ein mit Knochen gefüllter Lederbeutel in menschlicher Form aus. Die Tätowierungen waren gut zu sehen, die verzierten Streifen liefen um die Körpermitte herum. Jane suchte nach der anderen Tätowierung Fletcher Christians, von der sie wusste: dem Stern des Hosenbandordens auf der linken Seite der Brust. Aber diese Stelle fehlte, es waren nur zerklüftete Reißspuren am Rand eines Lochs von ungefähr zwanzig Zentimeter Durchmesser zu sehen. »Was ist da passiert?«, fragte sie und deutete darauf.
»Wahrscheinlich irgendwann von Tieren weggefressen worden«, sagte River.
»Könnte es absichtlich herausgeschnitten worden sein? Vom Mörder?«
River runzelte die Stirn und betrachtete den Riss genauer. »Ich glaube nicht, es sieht eher so aus, als hätten Zähne es herausgerissen. Wieso meinen Sie, dass es absichtlich gemacht wurde?«
»Weil Fletcher Christian genau an dieser Stelle eine charakteristische Tätowierung hatte.«
River zog die Augenbrauen hoch. »Sie sind ja wirklich so gut, wie Sie sagten, Jane. Voller interessanter Informationen. Ich sag Ihnen was, ich werde es mir unter dem Mikroskop nochmal ansehen, ob ich eine definitive Antwort geben kann ...« Sie schwieg, als sei ihr gerade ein Gedanke gekommen. »Dieses Manuskript - ist es etwas, für das sich ein Händler interessieren würde?«
»Darauf können Sie wetten«, sagte Jane. »Wenn es wirklich ein Gedicht in der Originalhandschrift gibt, würde es bei einer Auktion wahrscheinlich über eine Million bringen. Und da gäbe es für den Händler eine nette Provision. Warum fragen Sie?«
»Ein Typ sprach mich neulich abends an, in der Hotelbar drüben. Er sagte, dass er mit Dokumenten handelt und Hinweisen nachgeht, dass es möglicherweise ein Manuskript gebe, das mit Fletcher Christian zu tun habe. Und er interessierte sich dafür, ob ich meine, dass diese Leiche Fletcher sein könne.« Sie wies auf die Leiche auf dem Tisch. Jane wurde das Herz schwer. »Sein Name war wohl Jake Hartnell, oder?«
»Kennen Sie ihn?«
»Nur zu gut«, sagte sie ernst. Wenn sie noch eine Bestätigung gebraucht hätte, dass Jake mehr Interesse an dem Manuskript hatte als an ihr, hier war sie. »Sagen wir einfach, wir sind uns im Hinblick auf die meisten Dinge nicht einig.«
River zog erneut eine Augenbraue hoch. »Ich muss sagen, ich fand ihn auch nicht besonders sympathisch.« Jane lächelte gequält. »Dann können Sie lebende Menschen mindestens so gut beurteilen wie Tote.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich gehe jetzt besser. Danke, dass Sie mir das gezeigt haben.« »War mir ein Vergnügen. Und ich halte Sie auf dem Laufenden. Wenn sich herausstellt, dass das hier wirklich Fletcher Christian ist, werden Sie es als Erste erfahren.«
Ewan Rigston informierte sein Team gerade über einen bewaffneten Raubüberfall auf eine Tankstelle, als vom Empfang die Meldung kam, Alice Clewlow warte auf ihn und wolle ihn sprechen. Nachdem er die Einsatzbesprechung zu Ende gebracht hatte, ließ er sie zu sich ins Büro kommen. Er erinnerte sich an Alice. Sie war ein paar Jahre jünger als er, und er hatte sie einmal zu einem Tanzabend des Rugbyclubs eingeladen. Sie hatte gelacht, allerdings nicht unfreundlich, und ihm gesagt, er verschwende seine Zeit. Er war damals beleidigt gewesen, aber im Lauf der Jahre war ihm klar geworden, dass die Zurückweisung generell und nicht gegen ihn persönlich gerichtet war. Nicht dass sie die Sache an die große Glocke gehängt hätte. Denn in einer kleinen Stadt war immer Diskretion angesagt.
Er hatte sie ein paar Jahre nur
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