Das Moskau-Komplott
sie in die Sonne hinaustrat, wurde die hintere Tür des vorderen Wagens aufgestoßen und ein dicker Arm zog sie grob hinein. Die Wagen fuhren gleichzeitig wieder an und verschwanden in einer großen schwarzen Wolke. Jean-Luc beobachtete, wie sie davonfuhren, dann senkte er den Blick auf den Tresen und sah, dass Elena den Geldschein hatte liegen lassen. Er steckte ihn in die Tasche, erhob das Glas und brachte einen stillen Toast auf ihre Tapferkeit aus.
Auf die Frauen,
dachte er.
Russlands letzte Hoffnung.
Die lange und rätselhafte Abwesenheit des Gastes, der unter dem Namen Michael Danilow bekannt war, hatte im Chateau de la Messardiere die schwerste Krise des gesamten Sommers ausgelöst. Suchmannschaften waren ausgeschwärmt und hatten die Umgebung durchkämmt, Behörden waren verständigt worden. Doch als er an diesem Abend auf den Hof des Hotels fuhr, war seiner Miene anzusehen, dass er keinerlei Ungemach erlitten hatte. Er reichte dem Hoteldiener seinen Wagenschlüssel und betrat die Marmorlobby, in der seine Geliebte, die zutiefst erschütterte Sarah Crawford, aufgeregt wartete. Diejenigen, die Zeuge der Ohrfeige wurden, sollten später ihre klangliche Reinheit bestätigen. Sie wurde mit der rechten Hand ausgeführt und traf voll seine linke Wange. Da sie ohne Vorwarnung oder Vorrede ausgeteilt wurde, waren der Empfänger und die Zeugen völlig überrascht - alle bis auf zwei russische Sicherheitsleute, Angestellte eines gewissen Iwan Charkow, die in einer fernen Ecke der Lobby-Bar ihren Wodka tranken.
Der blonde Mann unternahm keinen Versuch der Entschuldigung oder Versöhnung. Stattdessen stieg er wieder in den roten Audi und fuhr mit hoher Geschwindigkeit in sein Lieblingscafe am alten Hafen, wo er bei etlichen Flaschen eisgekühltem Kronenbourg über seine verworrene Situation nachdachte. Er sah die Russen nicht kommen. Und selbst wenn, hätte er in dem Zustand, in dem er sich mittlerweile befand, nicht viel ausrichten können. Ihr Angriff erfolgte, wie Sarahs Ohrfeige, ohne Vorwarnung oder Vorrede, allerdings war der Schaden, den er anrichtete, erheblich größer. Als alles vorbei war, half ihm ein Kellner auf die Beine und machte ihm einen Eisbeutel für seine Wunden. Ein Gendarm erschien und fragte nach dem Grund der Aufregung. Er nahm ein Protokoll auf und fragte das Opfer, ob es Anzeige erstatten wolle. »Was können Sie gegen die schon machen?«, erwiderte der Blonde. »Das sind Russen.«
Er blieb noch eine Stunde in der Bar und trank kräftig auf Rechnung des Hauses, dann stieg er wieder in seinen Audi und fuhr ins Hotel zurück. Als er sein Zimmer betrat, lagen überall auf dem Boden seine Kleider verstreut, und auf den Badezimmerspiegel war mit Lippenstift ein Schimpfwort geschmiert. Er blieb noch einen Tag im Hotel und leckte seine zahlreichen Wunden, dann stieg er um Mitternacht in seinen Wagen und fuhr mit unbekanntem Ziel davon. Das Management sah ihn nicht ungern abreisen.
TEIL II
Die Flucht
BITTERE WAHRHEIT
48 Paris
Der TGV aus Marseille fuhr zehn Minuten vor der planmäßigen Ankunft um 19.28 Uhr in den Gare de Lyon ein. Gabriel war davon nicht überrascht. Gewerkschaftlich organisierte französische Lokführer konnten unterwegs immer etwas Zeit gutmachen, wenn sie früh zu Hause sein wollten. Als er mit seiner Reisetasche in der Hand die leere Ankunftshalle durchquerte, hob er den Blick zu der hohen, gewölbten Decke. Drei Jahre zuvor war der historische Bahnhof, ein Wahrzeichen der Stadt, durch die Bombe eines Selbstmordattentäters schwer beschädigt worden. Möglicherweise wäre er in Schutt und Asche gelegt worden, hätte Gabriel nicht zwei andere Terroristen getötet, ehe sie ihre Sprengsätze zünden konnten, eine Heldentat, die ihn vorübergehend zum meistgesuchten Mann in ganz Frankreich gemacht hatte.
Ein Dutzend Taxis warteten in der kreisrunden Zufahrt vor dem Bahnhof. Doch Gabriel ging weiter zum Boulevard Diderot und hielt dort eines an. Die Adresse, die er dem Fahrer nannte, war ein paar Straßenzüge von seinem wahren Ziel entfernt, einem kleinen Wohnhaus in einer ruhigen Straße unweit des Bois de Boulogne. Überzeugt, dass ihm niemand gefolgt war, ging er zum Eingang und drückte den Klingelknopf von Wohnung 4b. Der Türöffner summte sofort. Gabriel stieg rasch die Treppen hinauf, seine Wildleder-Slipper machten auf dem abgetretenen Läufer keinerlei Geräusch. Auf dem Treppenabsatz im vierten Stock angekommen, sah er, dass die Wohnungstür nur
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