Das Moskau-Komplott
nie viel daraus gemacht.«
Gabriel ging zu dem Gemälde und blieb schweigend davor stehen, die rechte Hand am Kinn, den Kopf leicht auf die Seite gelegt. Dann leckte er drei Finger seiner rechten Hand an und rieb den Oberflächenschmutz von dem rundlichen Knie eines der Kinder ab. Boothby runzelte die Stirn.
»Also wirklich, Gabriel! Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.«
Gabriel trat zwei Schritte zurück und schätzte die Maße des Gemäldes.
»Ich würde sagen, fünfundneunzig auf zweiundsiebzig.«
»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, sind es vierundneunzig auf zweiundsiebzigeinhalb. Sie haben ein ziemlich gutes Auge.«
Gabriel ließ nicht erkennen, ob er das Kompliment gehört hatte. »Ich werde für einige Tage einen Platz zum Arbeiten brauchen. Einen ruhigen Platz. Wo ich nicht gestört werde.«
»Auf der Nordseite des Grundstücks steht eine alte Wildhüterhütte. Vor ein paar Jahren habe ich kleine Renovierungen vornehmen lassen. Gewöhnlich vermiete ich sie um diese Jahreszeit, aber in den nächsten Wochen steht sie leer. Das komplette Obergeschoss ist zu einem Atelier umfunktioniert worden. Das müsste Ihnen gefallen.«
»Bitte sagen Sie Mrs. Devlin, dass ich das Putzen selbst übernehme. Und sagen Sie dem alten George, dass er da draußen nicht herumschnüffeln soll.« Wieder die Hand am Kinn und den Kopf zur Seite geneigt, setzte Gabriel seine Begutachtung des Gemäldes fort. »Ich mag es nämlich nicht, wenn mir Leute bei der Arbeit zusehen.«
32 Gloucestershire, England
Am nächsten Morgen überreichte Gabriel dem MI5 eine operative Einkaufsliste, wie man sie noch nie gesehen hatte. Whitcombe, der an dem legendären Agenten aus Israel einen Narren gefressen hatte, meldete sich freiwillig, die Besorgungen zu machen. Sein erstes Ziel war L. Cornelissen & Son in der Great Russell Street, wo er einen großen Posten Pinsel, Pigmente, Bindemittel, Grundierung und Firnis erstand. Als Nächstes fuhr er hinauf nach Camden Town, wo er zwei Staffeleien, und dann hinüber nach Earl's Court, wo er drei handelsübliche Halogenlampen kaufte. Seine letzten beiden Stationen lagen in der Bury Street und nur ein paar Türen voneinander entfernt: Arnold Wiggins & Sons, wo er einen hübsch geschnitzten Rahmen im französischen Stil bestellte, und Dimbleby Fine Arts, wo er das Bild eines weithin unbekannten französischen Landschaftsmalers erwarb. Es war 1884 außerhalb von Paris gemalt worden und hatte die Maße fünfundneunzig mal zweiundsiebzig Zentimeter.
Bis zum Nachmittag waren das Gemälde und die Malutensilien in Havermore, und schon bald war Gabriel im Atelier im Obergeschoss der alten Wildhüterhütte bei der Arbeit. Obwohl ihm der technische Fortschritt gegenüber den großen Kopisten der Vergangenheit beträchtliche Vorteile verschaffte, beschränkte er sich weitgehend auf die bewährten Methoden der alten Meister. Nachdem er die Oberfläche der
Zwei Kinder am Strand
untersucht hatte, machte er über hundert Detailfotos und heftete sie an die Wand des Ateliers. Dann legte er einen durchsichtigen Papierbogen auf das Gemälde und pauste das Bild darunter durch. Als die Skizze fertig war, nahm er sie weg und bohrte entlang den Linien, die er soeben gezeichnet hatte, mehrere Tausend winzige Löcher. Anschließend legte er die Zeichnung auf die zweite Leinwand - die völlig abgetragen und frisch grundiert war - und streute behutsam Grafitstaub darüber. Etwas später, als er das Papier entfernte, erschien ein Geisterbild von
Zwei Kinder am Strand
auf der Fläche.
Ein minder begabter Kopist hätte zwei oder drei Entwürfe des Gemäldes angefertigt, bevor er sich an die endgültige Version wagte, doch Gabriel spürte, dass es nicht notwendig war zu üben, noch hatte er die Zeit dafür. Er stellte die Staffeleien nebeneinander, die mit Cassatts Original auf die linke Seite, und bereitete sogleich die erste Palette vor. In den ersten Tagen arbeitete er langsam, doch je vertrauter ihm der Stil der Cassatt wurde, desto schneller und selbstsicherer vermochte er die Farbe auf die Leinwand aufzutragen. Manchmal hatte er das Gefühl, sie stehe neben ihm und führe ihm behutsam die Hand. Gewöhnlich erschien sie ihm allein, in einem bodenlangen Kleid und mit damenhafter Haube, doch manchmal brachte sie auch ihre Mentoren - Degas, Renoir und Pissarro - mit, die ihm in den Feinheiten der Pinselführung und Farbenwahl zur Hand gingen.
Das Malen beanspruchte zwar den größten Teil von Gabriels Aufmerksamkeit,
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