Das Moskau-Komplott
Gesicht des anderen Kindes. »Wie sollen wir das anstellen? Iwan sieht alles.«
»Wir werden ihm wohl eine kleine Lüge auftischen müssen.«
»Was für eine kleine Lüge?«
»Ich möchte, dass Sie den restlichen Nachmittag mit Michail flirten«, sagte Sarah. »Michail wird Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen.«
Sarahs Blackberry hatte eine Besonderheit, die handelsübliche Geräte nicht haben: Es konnte Textnachrichten in weniger als einer Tausendstelsekunde verschlüsseln und an einen Empfänger schicken, der sich in der Nähe aufhält. Die Nachricht, die sie am frühen Abend absetzte, wurde in der Villa bei Gassin mit großem Jubel aufgenommen. Gabriel schickte sofort eine Meldung an die Operationsabteilung am King Saul Boulevard und an die Einsatzzentrale im CIA-Hauptquartier in Langley. Dann trommelte er sein Team zusammen und begann mit den letzten Vorbereitungen für die nächste Phase des Unternehmens. Sie betrafen die kleine Lüge, die sie Iwan auftischen wollten. Die kleine Lüge, die eine viel größere kaschieren sollte.
41 Saint-Tropez, Frankreich
Das Gewitter war nach Mitternacht von den Seealpen herabgekommen und hatte Iwan Charkows Festung an der Baie de Cavalaire unter Belagerung genommen. Elena Charkowa war nicht davon aufgewacht. Da sie schon die letzten beiden Nächte nicht geschlafen hatte, hatte sie die doppelte Dosis Beruhigungsmittel genommen. Jetzt erwachte sie widerwillig und etappenweise, wie ein Taucher, der aus großer Tiefe zur Wasseroberfläche aufsteigt. Eine Zeit lang lag sie mit geschlossenen Augen reglos da, ein Hämmern im Kopf und außerstande, sich an ihre Träume zu erinnern. Schließlich fasste sie blind zu Iwans Seite des Bettes hinüber, und ihre Hand strich über den warmen, weichen Körper eines jungen Mädchens. Im ersten Augenblick fürchtete sie, Iwan hätte die Dreistigkeit besessen, Jekatarina mit in ihr Bett zu bringen. Dann schlug sie die Augen auf und sah, dass es Anna war. Das Kind trug Iwans goldene Lesebrille und kritzelte mit Iwans goldenem Füllfederhalter auf die Rückseite irgendeines wichtigen Geschäftspapiers. Elena lächelte trotz ihrer Kopfschmerzen.
»Sag Maria, sie soll mir einen Cafe au lait bringen. Einen ganz großen Cafe au lait.«
»Ich bin sehr beschäftigt. Ich arbeite, genau wie Papa.«
»Hol mir einen Kaffee, Anna, oder ich schlage dich ganz fest.«
»Aber du schlägst mich doch nie, Mama.« »Es ist nie zu spät, damit anzufangen.«
Anna kritzelte stur weiter.
»Bitte, Anna, ich flehe dich an. Mama fühlt sich nicht gut.«
Das Mädchen seufzte schwer. Dann warf es mit gespieltem Ärger und einer Geste, die es seinem Vater abgeguckt hatte, die Unterlagen und den Füller auf den Nachttisch und schlug die Decke zur Seite. Gerade als sie aus dem Bett kriechen wollte, fasste Elena nach ihr und zog sie fest an sich.
»Ich dachte, du willst Kaffee.«
»Ja. Aber vorher möchte ich dich eine Minute drücken.« »Was hast du denn, Mama? Du sieht so traurig aus.« »Das ist nur, weil ich dich so lieb habe.« »Das macht dich traurig?«
»Manchmal.« Elena küsste sie auf die Wange. »Geh jetzt. Und komm mir nicht ohne Kaffee wieder.«
Sie schloss wieder die Augen und lauschte dem sich entfernenden Trippeln Annas nackter Füße. Ein kühler Windstoß fuhr in die Vorhänge und ließ Schatten über die Wände des Schlafzimmers tanzen. Wie alle Zimmer im Haus war es für familiäre oder eheliche Intimität viel zu groß, und nun, da sie allein in dem riesigen Raum war, fühlte sie sich wie eine Gefangene seiner Größe. Sie zog sich die Decke fest bis zum Kinn, um für sich einen kleinen Raum zu schaffen, und dachte an Leningrad vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Als Kind eines hohen Funktionärs der Kommunistischen Partei hatte sie ein privilegiertes Leben geführt - ein Leben mit Sonderläden, in denen es Lebensmittel und Kleidung im Überfluss gab, und Reisen in Länder außerhalb des Warschauer Pakts. Doch ihre behütete Jugend hatte sie in keiner Weise auf das extravagante Leben mit Iwan vorbereiten können. Häuser wie dieses existierten nicht, war ihr als Kind eingetrichtert worden, und nicht nur vom sowjetischen System, sondern auch von ihrem orthodoxen Vater, der dem Kommunismus selbst dann noch die Treue gehalten hatte, als deutlich wurde, dass der Kaiser ohne Kleider dastand. Elena begriff jetzt, dass sie ihr Leben lang belogen worden war, zuerst von ihrem Vater und jetzt von ihrem Mann. Iwan hatte immer behauptet,
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