Das Moskau Virus: Roman (German Edition)
kleinen, bärtigen Mann mit einem leuchtend roten Schal über der Abendgarderobe, der zögernd auf die Statue zukam. Er trug eine dicke Brille, in der sich das gleißende Licht spiegelte, das die Silhouette der Oper hervortreten ließ. Außerdem hatte er, deutlich sichtbar, ein buntes Programmheft von Mozarts Don Giovanni unter den Arm geklemmt.
Jon trat ihm in den Weg. »Gehen Sie zur Vorstellung?«, fragte er leise auf Deutsch. »Man sagt, der Maestro sei in ausgezeichneter Verfassung.«
Er bemerkte, dass der kleine Mann sich ein wenig entspannte. Maestro war das Erkennungswort, das Fred Klein Smith genannt hatte, als er telefonisch um dieses dringliche Treffen gebeten hatte.
»Ja, das sagt man«, erwiderte der kleine Bärtige. Er deutete auf das Programmheft unter seinem Arm. »Aber ich persönlich höre lieber Mozart als Weber.«
»Was für ein Zufall«, entgegnete Smith überschwänglich. »Mir geht es genauso.«
Der kleine Mann lächelte dünn. Die blauen Augen hinter den dicken Brillengläsern leuchteten. »Anhänger des größten europäischen Komponisten müssen zusammenhalten, mein Freund. Also nehmen Sie das hier, mit besten Grüßen.« Damit reichte er dem großen Amerikaner das Programmheft von Don Giovanni . Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um, ging davon und verschwand in der Menschenmenge, die sich vor dem halbrunden Portal der Semperoper drängte.
Smith spazierte in die entgegengesetzte Richtung. Im Gehen klappte er das Programmheft auf und zog einen braunen Briefumschlag heraus, der an eine der Seiten geheftet worden war. Darin fand er einen amerikanischen Pass, ausgestellt auf den Namen John Martin, mit einem Foto von sich selbst und einem gültigen
Stempel des deutschen Zolls. Außerdem enthielt der Umschlag eine Kreditkarte für den besagten John Martin, ein Zugticket nach Berlin und einen nummerierten Gepäckschein für die Gepäckaufbewahrung im Neustädter Bahnhof in Dresden.
Jon grinste in sich hinein, dieses neue Beispiel für Fred Kleins nüchterne Gründlichkeit beruhigte ihn ungemein. Er steckte die verschiedenen Papiere ein, warf das Opernprogramm in einen Abfalleimer und ging eilig auf die hellen Lichter einer nahen Straßenbahnhaltestelle zu.
Eine halbe Stunde später sprang er leichtfüßig aus der Hintertür einer gelben Straßenbahn. Der Neustädter Bahnhof lag direkt gegenüber. Eine Pyramide aus modernen Stahlträgern und Glas türmte sich über der verwitterten, von Abgasen verfärbten Steinfassade des ursprünglichen Bahnhofs. Smith wich einigen Taxen aus, die auf der Suche nach Fahrgästen langsam über die schneebedeckten Straßen krochen, und betrat das fast menschenleere Gebäude.
Am Nachtschalter der Gepäckaufbewahrung nahm ihm ein missmutiger Beamter den Gepäckschein ab, kramte im Hinterzimmer herum und kehrte schließlich grummelnd mit einer brandneuen Reisetasche und einem Laptop-Rucksack zurück. Jon quittierte den Erhalt und zog sich dann an den Rand des Schalters zurück, um seine neuen Sachen zu inspizieren. Die Reisetasche enthielt ein Sortiment Kleidung in seiner Größe, einschließlich eines warmen schwarzen Wollmantels. Dankbar zog er seine übel zugerichtete Windjacke aus und streifte den schweren Mantel über. In der Computertasche befand sich neben einem robusten, superschnellen Laptop auch ein tragbarer Scanner.
Smith schaute hoch auf die Tafel mit den Abfahrtszeiten. Ihm blieb noch fast eine Stunde, bis der nächste Zug nach Berlin aus
Dresden abfuhr. Sein Magen knurrte, was ihn daran erinnerte, dass allzu viele Stunden verstrichen waren, seit er das letzte Mal gegessen hatte – ein paar Happen trockenen Toast mit Marmelade in der Prager Polizeistation. Er schloss beide Taschen, hängte sie über die Schulter und ging durch den Bahnhof zu einem kleinen Café in der Nähe der Bahnsteige. Ein Schild auf Deutsch, Französisch und Englisch lud die Gäste dazu ein, von der drahtlosen Internet-Verbindung des Restaurants Gebrauch zu machen, während sie sich Kaffee, Suppe oder Sandwiches gönnten.
So konnte er bis zur Abfahrt des Zuges zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, dachte Jon dankbar und nahm an einem leeren Ecktisch Platz. Er bestellte schwarzen Kaffee und eine Kartoffelsuppe mit Wurstscheiben und Majoran.
Als die Kellnerin gegangen war, schaltete Smith den neuen Laptop und den Scanner ein. Während er seinen Kaffee trank, zog er den Ausweis hervor, den er bei der Leiche des Mannes mit der zerschmetterten Nase
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