Das Moskau Virus: Roman (German Edition)
über das Schienenkreuz bei Beslan fahren – allem Anschein nach
nur ein weiterer routinemäßiger Transport von militärischer Ausrüstung für die russischen Streitkräfte, die mit den tschetschenischen Rebellen im Westen kämpften.
Der russische General lächelte dünn. Bald waren die Waffen, die Munition und die Männer zweier vollständiger motorisierter Schützendivisionen – der 27. Gardeschützendivision und der 56. Schützendivision – in Schussweite zur kleinen Republik Georgien sicher versteckt. Obwohl beide Divisionen hauptsächlich mit älteren, nicht besonders leistungsfähigen Panzern und anderweitigen militärischen Gerätschaften operierten, waren sie allem, was die unprofessionellen georgischen Streitkräfte gleich jenseits der Grenze aufbieten konnten, weit überlegen.
Mit einer nachlässigen Handbewegung schickte Sewalkin den Major an die Arbeit zurück und kletterte in den Wagen. »Bringen Sie mich zum Hauptquartier in Wladikawkas«, befahl er seinem Fahrer.
Dann lehnte er sich im Sitz zurück und überlegte, was in den kommenden Tagen und Wochen wohl passieren würde. In den Befehlen, die Moskau ihm für diesen streng geheimen Aufmarsch gab, war nur von einer »speziellen Mobilitäts- und Bereitschaftsprüfung« die Rede. Der General schnaubte leise. Nur ein Narr konnte glauben, dass der Kreml derartig große Truppen- und Materialbewegungen – fast vierzigtausend Männer und mehr als eintausend gepanzerte Kampffahrzeuge waren betroffen – allen Ernstes nur zu Manöverzwecken anordnete. Und ganz bestimmt nicht mitten im harten kaukasischen Winter mit seinen heulenden Bergwinden, dem strengen Frost und den undurchdringlichen Schneestürmen.
Nein, dachte Sewalkin, Dudarew und die anderen mussten ein Wagnis vorhaben, irgendeinen entscheidenden Schlag, der die Welt vor Staunen erstarren ließ. Hoffentlich ist es bald so weit, dachte er grimmig. Er und alle, die so dachten wie er, hatten schon viel zu lange deprimiert schweigend zugesehen, wie Russlands
Macht und Einfluss schwanden und mit jedem Jahr weniger wurden. Aber bald würde sich all das ändern. Wenn endlich der Befehl kam, seinem Land wieder zu seinem angestammten Platz auf der Weltbühne zu verhelfen, waren er und die Soldaten unter seinem Kommando bereit, ihre Pflicht zu tun.
Kapitel neun
Weißes Haus
Sam Castilla saß an dem großen rustikalen Tisch aus New-Mexiko-Pinie, der ihm als Schreibtisch diente, und arbeitete sich zielstrebig durch mehr als ein Dutzend mehrseitige legislative und politische Analysen, die mit dem Stempel Dringlich versehen waren. Selbst mit dem erstklassigen Stab des Weißen Hauses als Filter war die Menge von Dokumenten, die seine persönliche Aufmerksamkeit erforderten, schier atemberaubend. Er kritzelte einige kurze Bemerkungen an den Rand eines Memos, um sich gleich darauf dem nächsten zuzuwenden. Augen, Kopf und Schultern, alles tat ihm weh.
Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. Als Präsident hatte man stets das gleiche Problem: Delegierte man zu viel Macht und Verantwortung, wurde man am Ende in der Presse als »Grüßaugust« belächelt oder man verfing sich in einem überaus dummen Skandal, der von irgendwelchen übereifrigen Angestellten ausgelöst worden war. Versuchte man, zu viel Kontrolle auszuüben, erstickte man in einem Meer unwichtiger Aktennotizen, die eher etwas für Praktikanten waren – oder man verschwendete kostbare Zeit damit, den Tagesplan für die Tennisplätze des Weißen Hauses aufzustellen, wie der arme Jimmy Carter. Der Trick bestand darin, die richtige Balance zu finden. Das Dilemma war nur, dass die richtige Balance sich ständig änderte.
An der Tür zum Oval Office klopfte es leise.
Castilla nahm die Lesebrille mit dem Titangestell ab, rieb sich kurz die müden Augen und schaute auf. »Ja?«
Seine Sekretärin stand im Türrahmen. »Es ist fast sechs, Mr. President. Und Mr. Klein ist hier«, sagte sie spitz, ohne sich die Mühe zu machen, den missbilligenden Ausdruck ihres strengen Gesichts zu verstecken. »Ich habe ihn in Ihr privates Arbeitszimmer gebracht, so wie Sie es gewünscht haben.«
Castilla verkniff sich ein Schmunzeln. Ms. Pike, seine schwer geprüfte persönliche Assistentin, nahm ihre Rolle als Wächterin über seinen Zeitplan ernst – sehr ernst sogar. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass er ihrer Meinung nach zu lang arbeitete, sich zu wenig bewegte und es zuließ, dass seine beschränkte Freizeit viel zu vielen
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