Das Motel
Verdächtiges passiert. Zum Beispiel, wenn jemand schreit. Ich verstehe das völlig.«
Er eilte zur Tür hinüber und öffnete sie für Madge. Sie bedankte sich.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend«, sagte sie, als sie hinaustrat.
»Den werden wir haben«, versicherte Wayne.
Die Tür schloss sich hinter ihr und sie machte sich zurück auf den Weg ins Büro.
Den kalten Wind, der ihr ins Gesicht blies, registrierte Madge nicht. Ihr ging etwas völlig anderes durch den Kopf. Es war Waynes Gesicht, das ihr keine Ruhe ließ. Sie war eine ziemlich wache Person und Details fielen ihr immer auf, auch wenn sie noch so klein waren. Sie war besonders gut darin, sich an Einzelheiten menschlicher Gesichter zu erinnern. Inzwischen war es nicht mehr nur die Tatsache, dass ihr sein Gesicht bekannt vorkam – obwohl sie sich trotzdem wünschte, sie würde sich noch daran erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Nein, es war irgendeine Kleinigkeit, die ihr einfach keine Ruhe ließ.
Sie dachte noch immer darüber nach, als sie die Tür des Büros erreichte. Ganz automatisch und ohne darüber nachzudenken, holte sie den Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Sie trat ein und schloss hinter sich ab. Und dann traf es sie wie ein Blitz.
Wayne hatte keinen Schnurrbart mehr gehabt. Sie war sich sicher, dass er einen gehabt hatte, als er angekommen war.
Sie wusste, dass sich viele Gäste, besonders Männer, verkleideten, wenn sie eine Nacht in ihrem Motel verbrachten. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, warum.
Aber weshalb sollte ein Vater einen falschen Schnurrbart tragen? Das ergab keinen Sinn.
Sie ging durch ihr Wohnzimmer ins Schlafzimmer. In ihrer Wohnung war es gemütlich warm. Der Kamin im Wohnzimmer vollbrachte wahre Wunder und erwärmte die gesamte Wohnung. Sie warf ihren Schal und Mantel aufs Bett und trottete dann zurück ins Wohnzimmer. Sie setzte sich in ihren Sessel und starrte mit leerem Blick auf den Fernseher. Den Ton hatte sie leise gestellt.
Warum trägt er einen falschen Schnurrbart? Was hat er zu verbergen?
Madge schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass es sie nichts anging. Solange er nichts Illegales tat oder sie illegale Aktivitäten vermutete, ging es außer Wayne und seinen Sohn niemanden etwas an.
Aber sie konnte trotzdem darüber nachdenken. Sie konnte versuchen, sich daran zu erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Auf jeden Fall beherbergte sie heute Nacht eine seltsame Gästeschar. Nur Morrie und seine Frau schienen normal zu sein.
Aber was ist heutzutage schon normal?
Sie griff nach der Fernbedienung und wollte gerade den Ton wieder lauter machen, als ihr der Tee wieder einfiel. Sie erhob sich und ging in die Küche. Die kleine Tasse stand noch immer auf der Arbeitsplatte. Sie legte ihre Hand darum. Die Tasse war eiskalt. Madge nahm sie hoch, ging zum Spülbecken hinüber, kippte das grüne Wasser aus und warf den triefenden Teebeutel in den Mülleimer.
Aber es machte ihr nichts aus. Heute Nacht brauchte sie ohnehin etwas Stärkeres als Kräutertee. Sie stellte die Tasse ins Spülbecken, ging zurück ins Wohnzimmer, schob die Tür ihrer Hausbar auf und holte ihren alten Freund heraus: Black Douglas.
Er würde ihr beistehen in dieser Nacht – sie wusste, dass sie noch längst nicht vorüber war. Unglücklicherweise würde diese Nacht noch seltsamer werden. Es war genau wie mit dem Regen: Madge erkannte diese Nächte sofort. Auch das brachte die Erfahrung mit sich.
Draußen klingelte jemand an der Tür.
KAPITEL 16
Wayne drehte die Dusche ab und band den Jungen wieder los. Vorhin hatte er die Hände des Jungen hastig an das Abwasserrohr des Waschbeckens gefesselt und ihm ein kleines Handtuch in den Mund gestopft. Als er die Hände des Jungen nun wieder befreite, klatschen sie auf den Boden. Als Wayne das Handtuch herauszog, klebte ein wenig Schleim daran.
Der Junge schnappte nach Luft.
»Steh auf«, befahl Wayne.
Der Junge tat, wie ihm befohlen wurde.
»Denk immer daran, was ich gesagt habe. Wenn du schreist oder versuchst, abzuhauen, werde ich nicht nur alle hier umbringen, dich eingeschlossen, ich werde auch deine Familie aufspüren. Verstanden?«
Der nackte, zitternde Junge nickte. Vom vielen Weinen waren seine Augen ganz verquollen.
Wayne drehte sich um und betrachtete sich im Spiegel.
Das war ganz schön knapp, dachte er und schüttelte den Kopf.
Er war stolz auf sich, weil er ruhig geblieben war, diszipliniert. Sein Gesicht war immer
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