Das Motel
sehen. Könnte ’ne Weile dauern, bis er den Kopf hebt, wenn er es überhaupt tut. Ich halte solange Wache. Sei vorsichtig.«
Sie wusste, was er mit seiner letzten Bemerkung meinte. Er kannte sie gut. Sie hatte sich innerlich die ganze Zeit darauf vorbereitet, was sie im Inneren dieser kleinen Hütte sehen würde.
Morrie ließ ihre Hand los und sie stellte sich vor das Fenster. Sie berührte mit ihrem Gesicht beinahe die Scheibe und schaute ins Zimmer.
Judy hatte nicht erwartet, den Raum von Kerzenlicht erhellt zu sehen – Morrie hatte es ihr gegenüber nicht erwähnt. Sie konnte nicht sagen, warum, aber der Kerzenschein verstörte sie nur noch mehr. Sie wünschte, der Raum wäre hell erleuchtet.
Und da war er. Ans Bett gefesselt, sein schmaler, blasser Körper mit dunklem Blut bedeckt. Seine Knie und Füße waren bandagiert.
Warum sind die bandagiert?, wunderte sie sich.
Der Anblick des armen Jungen tat ihr im Herzen weh, aber sie sagte sich immer wieder, dass er womöglich der einzige Mensch auf der Welt war, der sie zum Zeitpunkt des Mordes mit dem Tatort in Verbindung bringen konnte. In gewissem Sinne war er der Feind.
Judy fühlte sich ganz krank, je länger sie den geschundenen, blutigen Körper betrachtete, und sie ließ ihren Blick durch den kleinen Bereich des Zimmers schweifen, den sie einsehen konnte. Sie konnte den Rand des zweiten Bettes nur mit Mühe erkennen, außerdem das Waschbecken und den Kühlschrank. Sie schaute nach unten auf den Boden und sah am Fuß des Bettes, in dem der Junge lag, einen kleinen Haufen Klamotten liegen.
Müssen wohl seine Kleider sein.
Während sie die Kleidung betrachtete, rannen Tränen über ihre Wangen.
Obwohl der Junge, der ihnen entkommen war, die größte Bedrohung für sie darstellte, wollte Judy nicht, dass er dieser Junge war. Sie wollte einfach nur aus diesem gottverlassenen Motel verschwinden.
Aber nun gab es keinen Zweifel mehr. Sie musste sein Gesicht nicht sehen und sie wollte es auch gar nicht. Sie wich vom Fenster zurück und tippte Morrie auf die Schulter. Er schreckte kurz hoch und als er sich umdrehte, bedeutete sie ihm mit einem Nicken, dass sie gehen wollte.
Sie liefen zu ihrer Hütte zurück. Judy war froh, der Kälte und dem Regen zu entkommen.
»Und?«, fragte Morrie vorsichtig. »Bist du jetzt überzeugt?«
Sie nickte.
»Dann hast du sein Gesicht auch erkannt.«
»Nein. Er hat gar nicht hochgeschaut.«
Morrie runzelte die Stirn. »Wie kannst du dir denn dann sicher sein, dass er es ist?«
»Ich hab seine Kleider auf dem Boden gesehen. Die Hose, das Jackett, das weiße Hemd. Genau die gleichen Sachen, die auch die beiden Jungs vor unserem Haus anhatten.«
»Die sind mir gar nicht aufgefallen«, gestand Morrie.
Judy seufzte, zog ihre Jacke aus und legte sie auf den Tisch. Sie ging zum Bett hinüber und setzte sich. »Er ist es ganz bestimmt. Ich würde sagen, wir können uns glücklich schätzen.«
Morrie zog seine nasse Jacke aus, legte sie neben Judys und setzte sich dann neben seine Frau. »Ich weiß, dass du von hier weg willst. Verdammt, das will ich ja auch. Aber wir müssen uns um ihn kümmern. Er ist der einzige Mensch, der uns mit dem Mord in Verbindung bringen kann.«
»Ich weiß«, seufzte Judy. »Es ist nur … ich hab mir geschworen, dass es heute Nacht keine Leichen mehr geben wird.«
Morrie legte seinen Arm um sie und drückte sie ganz sanft.
Er begann, leise zu wimmern.
Judy hörte es und nahm ihn in den Arm.
»Ich weiß, Morrie. Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, das nicht tun zu müssen. Aber ich weiß auch, dass es trotzdem sein muss. Du solltest dir für all das nicht die Schuld geben.«
Plötzlich sprang Morrie auf, rannte ins Badezimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Judy blieb auf dem Bett sitzen und hörte zu, wie ihr Mann sich übergab.
Sie wusste, dass es für ihn doppelt so schlimm war. Er war derjenige, der den Jungen getötet hatte, und er würde es auch sein, der den anderen Jungen in der Hütte umbrachte.
Er muss gerade durch die Hölle gehen, dachte sie.
Sie stand vom Bett auf und ging zum Waschbecken hinüber, wo sie ein Glas mit Wasser füllte. Es war das Mindeste, was sie für ihren Mann tun konnte. Er brauchte sie nun mehr als jemals zuvor. Sie trottete wieder zum Bett zurück, setzte sich und wiegte das Wasserglas in ihrer Hand. Morries Würgegeräusche tönten durch den ganzen Raum.
Sie dachte wieder an den Jungen.
In ihren Augen bildeten sich Tränen.
KAPITEL 36
Wayne
Weitere Kostenlose Bücher