Das München-Komplott
normal, dass er manchmal nicht mehr weiterwusste.
Es war normal, dass eine Ermittlung ins Stocken oder gar zum Stillstand kam.
Doch Dengler konnte sich nicht erinnern, dass er wegen eines Falls jemals so verzweifelt gewesen war.
Er war Polizist gewesen. Obwohl er manchmal unkonventionell vorgegangen war, vielleicht auch hin und wieder die Dienstvorschriften überschritten hatte, so doch immer nur, um Recht und Gerechtigkeit herzustellen. Bei allen Unzulänglichkeiten, die er im Polizeiberuf kennengelernt hatte, galt doch für ihn, dass die Bürger der Staat sind, und der Polizist den Bürger schützt, indem er über die Einhaltung der Regeln wacht, die sich die Bürger selbst gegeben haben. Ohne Polizei konnte Gesellschaft nicht funktionieren. Auch wenn viele die Polizei nicht mochten, so war sie doch, und davon war Dengler immer überzeugt gewesen,unabdingbar notwendig, geradezu eine Grundvoraussetzung für den Schutz des Staates und damit das friedliche Zusammenleben der Menschen.
Und nun hatte er schwarz auf weiß gelesen, dass ein befreundeter, demokratischer Staat, der als Vorbild für den Polizeidienst aller Länder galt, sich herausnahm, jede Regel, sei es die des Gesetzes oder der Moral, zu verletzen und auf den Kopf zu stellen.
Diese Regierung nahm sich das Recht heraus, in einem Land wie Deutschland Attentate zu verüben, das heißt unschuldige Menschen zu töten, zu verletzen und zu verstümmeln, um die öffentliche Meinung des Gastlandes für ihre Interessen zu beeinflussen.
Das war mehr an Bösartigkeit, als er je vermutet hatte – vor allem von den Amerikanern.
Ihm war, als wären seine beruflichen Ziele und Ideale entwertet und beschmutzt worden von einer Seite, von der er es nie erwartet hätte.
Termin beim Präsidenten
Sie hatte sofort einen Termin beim Präsidenten bekommen. Sie kam mit ihrem Laptop, und in der Tasche ihres Jacketts hatte sie auf einem Stick den Film mit Leitner. Es war die einzige Kopie des Films. Im Anschluss an ihren mündlichen Bericht würde sie ihn dem Präsidenten feierlich als Beweis überreichen.
Er kam hinter seinem dunkelbraunen Holzschreibtisch hervor und wies auf den Besuchertisch. Er sah auf die Uhr.
»Setzen Sie sich. Wie lange brauchen wir? Um was geht es?«
Sie zögerte.
»Um den Kollegen Leitner. Ich habe einen Bericht vorliegen, nach dem er einen Bundesanwalt genötigt hat, Asservate zu vernichten. In einem wichtigen Fall.«
Sie sah, wie der Präsident eine Braue hochzog.
Sie sah, wie sein Gesicht sich verfinsterte.
Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob es eine gute Idee gewesen war, den Präsidenten zu informieren.
Er sagte: »Sie haben Leitner überwachen lassen? Habe ich das richtig verstanden? Sie haben Leitner observiert?«
»Es gab Anhaltspunkte. Wichtige Anhaltspunkte. Die sinnlose Überwachung des Stuttgarter Detektivs …«
Sie sprach schneller: »Und im Augenblick vertuscht er …«
Ihr war nun klar, dass er nicht sagen würde, das haben Sie gut gemacht, Frau Kleine.
Es lief anders als gedacht.
Grundlegend anders.
Der Präsident hob die Hand, und sie schwieg.
»Haben Sie von dieser Überwachung irgendwelche Dokumente, Fotos, Tondokumente, Videos?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er sagte: »Das werden wir klären – das werde ich klären. Sie haben auf eigene Faust einen unserer Abteilungsleiter observiert. Sie sind ab sofort vom Dienst suspendiert.«
Gisela Kleine war, als fiele sie in eine rosarote Röhre. Alles drehte sich in dieser Röhre. Sie hörte einen sausenden Ton, der sich verstärkte. Sie klammerte sich an der Armlehne fest. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte mit Beförderung gerechnet, zumindest einer Belobigung. Aber nun verlor sie alles.
Alles.
»Leitner hat noch ein halbes Jahr hier im Amt. In dieser Zeit will ich keinen Skandal. Er wird in Ehren verabschiedet. Er hat Verdienste, von denen Sie nicht einmal träumen können.«
Er sah sie nachdenklich an.
»Ihr Rechner bleibt hier auf meinem Tisch stehen. Wir beide gehen jetzt zu Ihrem Arbeitsplatz. Sie nehmen Ihre privaten Dinge aus Ihrem Schreibtisch. Dann gehen wir zum Ausgang. Der Sicherheitsdienst überprüft anschließend Ihr Büro. Sie bleiben auf Abruf in Ihrer Wohnung, bis über Ihre weitere Verwendung entschieden wurde.«
»Aber …«
»Kommen Sie. Wir gehen.«
Eine Stunde später saß sie in ihrer Wohnung am Ubierring. Ihre Tochter freute sich. Sie schmiegte sich an ihre Beine und sang ein Lied, das sie erst heute im Kindergarten gelernt
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