Das Multiversum 2 Raum
desolaten Einöde. Und der Sinn seiner vielleicht Milliarde Jahre währenden Existenz liegt allein darin, sich zurück-376
zuentwickeln und sich auf diesen Untergang, diesen Tod, diesen smert vorzubereiten. Welchen Sinn hat ein Bewusstsein mit einer solch niederschmetternden Perspektive?«
»Aber vielleicht ist das gar nicht so«, sagte er sanft. »Die Kosmologen sagen uns, dass es viele Zeitströme gebe. Die Zukunft des Mondes in der Richtung, in die wir schauen, mag düster sein.
Nicht aber die Vergangenheit. Wieso sich also nicht in diese Richtung wenden?«
Sie vermochte ihm kaum zu folgen. Aber sie erinnerte sich ans kare sansui, den wasserlosen Strom im Regolith. Es war unmöglich zu sagen, ob der Strom aus der Vergangenheit in die Zukunft floss oder aus der Zukunft in die Vergangenheit. Ob die Hügel aus Regolith wuchsen oder schrumpften.
»Vielleicht ist das für die Blumen – für diese Blume, die letzte oder vielleicht auch die erste – der Anfang, nicht das Ende«, sagte er.
»Velikij boch. Sie wollen damit sagen, dass diese Pflanzen rück-wärts in der Zeit leben? Dass sie sich nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit ausbreiten?«
»In der Gegenwart gibt es nur ein Exemplar von ihnen. In der Vergangenheit gibt es viele – vielleicht Milliarden. In unserer Zukunft finden sie den Tod; in unserer Vergangenheit gelangen sie zu voller Blüte. Wieso also nicht in diese Richtung schauen?« Er berührte ihre behandschuhte Hand. »Wichtig ist, dass Sie nicht um die Blumen trauern dürfen. Sie haben ihren Traum, ihren mec-ta von einem besseren Mond in der tiefen Vergangenheit oder der tiefen Zukunft. Das Universum ist nicht immer grausam, Xenia Makarova. Und Sie dürfen Frank nicht dafür hassen, was er getan hat.«
»Ich hasse ihn auch nicht.«
»Es gibt eine Perspektive, aus der er nicht Nährstoffe aus dem Herzen des Monds nimmt, sondern hinein gibt. Er pumpt den 377
Kern des Mondes voll Wasser und flüchtiger Stoffe, und wenn er damit fertig ist, wird er sogar das Loch auffüllen … Sie verstehen?«
»Takomi.«
Er schwieg.
»Das ist nicht Ihr richtiger Name, nicht wahr? Sie haben eine andere Identität angenommen.«
Er sagte nichts und hatte den Blick von ihr abgewandt.
»Ich glaube nicht einmal, dass Sie ein Mann sind. Ich glaube, Ihr Name ist Nemoto. Und Sie verstecken sich auf dem Mond und sitzen die Jahrhunderte aus.«
Takomi stand für eine Weile stumm da. »Meine Mond-Fabriken tauchen in eine bessere Vergangenheit ein. Für mich ist das aber keine Option. Ich muss meinen Weg in die unerfreuliche Zukunft machen. Hier bin ich aber weitgehend ungestört. Ich hoffe, Sie respektieren das.
Und nun kommen Sie«, sagte Takomi oder Nemoto. »Ich habe grünen Tee und Reisküchlein, und wir werden uns unter den Kirschbaum setzen und uns weiter unterhalten.«
Xenia nickte wie betäubt und ließ sich von ihm – ihr? – an die Hand nehmen. Zusammen gingen sie über die federnde Oberflä-
che des uralten Monds.
■
Wieder einmal fand am Südpol des Mondes eine Feier statt. Es war der Tag, an dem das Roughneck-Projekt sein Potential zu er-füllen versprach, indem die erste kommerziell nutzbare Wasserla-dung an die Oberfläche geholt wurde.
Wieder einmal herrschte reges Treiben: Investoren mit ihren Gä-
sten, Familien mit Kindern, mit großen Softscreens drapierte Bohrausrüstung, Virtuelle Beobachter, durch die jeder auf dem 378
Mond an den heutigen Ereignissen teilzuhaben vermochte. Selbst die Grauen waren hier, um den Abschluss des Projekts zu feiern und tanzten in einer ausgefeilten Choreographie.
Die Erde hing wie ein Gespenst überm Horizont, aber sie wurde ignoriert und die Kriege, die auf ihr ausgefochten wurden, waren bedeutungslos.
Diesmal sah Xenia Frank nicht im Sternenbanner-Raumanzug umherlaufen und Anweisungen erteilen. Frank sagte, dass er wüss-te, woher der Wind wehte – eine irdische Metapher, die keiner der mondgeborenen Japaner verstand. Also hatte er sich im neuen ryokan, den er auf dem Gipfel eines der höchsten Kraterberge errichtet hatte, einen freiwilligen Hausarrest auferlegt.
Als sie eintraf, winkte er sie herein und reichte ihr einen Drink, einen edlen Sake. Das Anwesen war ein großzügiges Penthouse, dessen Inneneinrichtung eine Mischung aus westlichen und tradi-tionellen japanischen Stilelementen darstellte. Die aufs Bohrloch hinausgehende Wand bestand aus einer durchgehenden Fenster-scheibe aus festem wasserfreiem Mondglas. Sie sah einen
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