Das Multiversum 2 Raum
hatten.
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Madeleine sah Markierungen an einem Aluminiumschott, die das Wachstum eines Kinds markierten, und fand das Bild eines Lieblingsonkels, das hinter einem Schrank gesteckt hatte.
Das Schiff hätte aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert stammen können – sogar aus dem zwanzigsten. Die Forschung im Bereich der Raumfahrttechnik war bei der Ankunft der Gaijin zum Erliegen gekommen. Madeleine dachte an die Blumen-Schiffe, die sie zum Sattelpunkt-Radius und darüber hinaus gebracht hatten: Schmuckvolle, perfekte, makellose Geräte.
Mehr als die Gurrutu hatte einfach nicht in Nemotos Möglichkeiten gestanden. Umso bewundernswerter war ihre Leistung. Mit dieser Ausrüstung hatte Nemoto den Neptun erreicht – die drei-
ßigfache Entfernung Erde-Sonne, zehnmal weiter als bis zum Asteroidengürtel. Nur Malenfant war ohne die Hilfe der Gaijin weitergekommen – und seine Missionen waren eine ›Einzelkämpferak-tion‹ gewesen. Nemoto hatte aber zweihundert Kolonisten losgeschickt.
Während sie sich mit den zusammengeschusterten Systemen ab-mühte und improvisierte Reparaturen durchführte, wuchs Madeleines Respekt vor Nemoto.
Und während Madeleine arbeitete, glitt die Erde träge an den Fenstern der Gurrutu vorbei.
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Diese alten Umweltschützer hatten mit ihren Kassandrarufen recht gehabt, wie Madeleine erfuhr. Das Klima war wirklich nur metastabil gewesen; nachdem die Menschen vierzigtausend Jahre lang Schindluder mit der Welt getrieben hatten, war das destabilisierte System schließlich gekippt und hatte mit verblüffender Schnelligkeit diesen neuen, tödlichen Zustand eingenommen.
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Madeleine erkannte Muster im Eis: Wellen und Moränen in verschiedenen Farben, wo das Eis von den Polen und Gebirgen herab-geflossen war. Es hingen kaum Wolken über den weiten Eisfeldern – nur ein paar Schleierwölkchen, an denen der Wind zupfte, der unablässig um riesige Tiefdrucksysteme wehte, die über dem ewigen Eis der Pole zentriert waren.
Das Eis überzog den größten Teil Kanadas. Eine Zunge erstreckte sich weit in den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten und reichte weiter südlich als die Großen Seen – oder wo sie sich einmal befunden hatten. Chicago, Detroit, Toronto und die anderen Städte waren alle überflutet worden. Die markanten lappenförmigen Seen waren einem neuen Meer gewichen, das sich von der Ostküste tausend Kilometer weit landeinwärts erstreckte. Und im Westen zog sich ein Band aus Wasser vom Puget Sound in Richtung Alaska. Das Land selbst war vom Gewicht des Eises planiert worden, und Meerwasser hatte die dadurch entstandenen Senken geflutet.
Im Süden der Eisgrenze war das Land in einem desolaten Zustand. Wüste erstreckte sich von Oregon über Idaho, Wyoming und Nebraska bis nach Iowa, ein Gürtel aus riesigen geriffelten Sanddünen. Hier wehten orkanartige Winde, weil schwere kalte Luftmassen vom Eis übers flache Land strömten. Nachts sah sie flackernde Lichter in dieser Einöde: Das waren Lagerfeuer, die Nachkommen der Bewohner des Mittleren Westens entzündet hatten. Sie mussten auf ein Nomadendasein in dieser großen kalten Wüste zurückgeworfen worden sein.
Noch weiter südlich erschien die Erde auf den ersten Blick so ge-mäßigt und bewohnbar wie eh und je. Sie sah Grün in den tropi-schen Zonen, Korallenriffe und Schiffe, die warme, eisfreie Meere durchpflügten. Aber auch diese Gebiete waren betroffen. Die gro-
ßen Regenwälder von Äquatorialafrika und des Amazonasbeckens waren zu isolierten Taschen geschrumpft und von Zonen umge-392
ben, die wie Grasland aussahen. Umgekehrt schien die Sahara zu ergrünen. Sogar die Umrisse der Kontinente hatten sich verändert; glitzernde Schichten des Kontinentalschelfs wurden durch den fallenden Meeresspiegel freigelegt.
Im Süden der Vereinigten Staaten gab es noch immer Städte: Große, dunstig graue Ballungsräume an den Küsten und den Flusstälern – von Baja California an der mexikanischen Grenze und dem Golf von Mexiko entlang bis nach Florida. New Orleans brannte; ganze Straßenzüge standen in Flammen, und die aufstei-genden schwarzen Rauchwolken breiteten sich Hunderte von Kilometern weit aus. Im Raum Orlando schien ein regionaler Krieg zu toben; sie erkannte Panzerspuren, und die Nacht wurde von Explosionen zerrissen.
Es war unmöglich, sich ein Bild über die aktuelle Lage zu machen. Die gesamte Kommunikation erfolgte wahrscheinlich über Landverbindungen oder gerichtete modulierte Laser; zu spät, so schien
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