Das Multiversum 2 Raum
Kolonne änderte die Richtung, um die Wolke zu umgehen.
Bald erreichten die Wanderer ein Gebiet, das von einer Art dickem grünblauem Frost überzogen war – wahrscheinlich Schwefeldioxid. Der Untergrund wurde merklich kälter unter Malenfants Füßen, und er bibberte.
Die Wanderer verließen diesen Bereich und suchten eine wärme-re Gegend.
Er wurde sich bewusst, dass sie über Hot Spots gingen. Aber diese Hot Spots mussten wandern. Der von Vulkanismus geplagte Io verformte sich wie ein Gummiball in der Faust von Jupiters Gezei-tenkräften, und Lavaströme veränderten ständig das Antlitz des Mondes.
Also waren die Neandertaler auf Io stetig auf Wanderschaft, auf der Suche nach der Wärme des Bodens.
Das war ein verdammt ungemütlicher Lebensstil. Aber sie schienen glücklich dabei.
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Zweimal pro Io-Tag machte die Karawane Halt.
Die Neandertaler schlugen nicht immer ein Lager auf. Aber sie entluden immer verschrammte Ausrüstungsgegenstände, Kästen in der Größe von Kühlschränken oder Waschmaschinen. Dann schlossen sie die magischen Anzüge für ein paar Stunden an Hüfte und Mund an. Aus dem Mundanschluss quoll Nahrung, eine dicke geschmacklose Pampe.
Malenfant wusste nicht, wie der Zauberanzug ihn mit Sauerstoff versorgte; einen Tank hatte er jedenfalls nicht. Der Anzug musste 542
die Schwefeldioxid-Atmosphäre irgendwie aufbrechen und Kohlendioxid aus der Lunge abführen. Über den Hüftanschluss wurden vielleicht Abfälle wie Kohlendioxid, Urin und Exkremente entsorgt und wiederaufbereitet. Auf jeden Fall schienen die Kästen die Zauberanzüge aufzuladen und ihre Funktionsfähigkeit jeweils für die nächsten zehn bis zwölf Stunden aufrechtzuerhalten.
Die Anzüge funktionierten störungsfrei. Die Neandertaler hatten aber nur eine bestimmte Anzahl magischer Anzüge und schienen auch nicht imstande zu sein, für Ersatz zu sorgen. Wenn nicht irgendein alter Sack gestorben wäre, dann hätte es keinen Zauberanzug für Malenfant gegeben. Was wäre dann passiert? Hätten sie ihn im Stich gelassen? Sie hatten ihn schließlich auch nicht eingeladen. Er hatte keine Ahnung, wie alt diese Ausrüstung war. Aber er wusste, dass jemand diese Neandertaler-Niederlassung auf Io ge-gründet hatte. Irgendjemand. Die Gaijin natürlich. Wer sonst?
Trotzdem musste er herausfinden, welche Bewandtnis es mit ihnen hatte.
Bei jedem Stopp überprüften die Neandertaler den Stab von Kintu.
Dabei handelte es sich um eine Metallstange von der Größe eines Staffelholzes. Es schien ihr wertvollster Besitz zu sein. Das einen halben Meter lange Rohr bestand aus einem aluminiumähnlichen Metall und wirkte leicht. Die Erwachsenen setzten sich auf den Boden und ließen den Stab reihum gehen. Sie prüften sein Gewicht, wiegten ihn und betrachteten ihn versonnen. Die Lieder, die sie über den Hauch Kintus sangen, handelten auch vom Stab.
Vielleicht war er eine Art Totem. Aber es war allzu leicht, allem, das man nicht verstand, eine religiöse Bedeutung zuzuschreiben.
Vielleicht steckte mehr dahinter.
Malenfant beneidete sie um ihre Gemeinschaft. Er wurde nicht einmal von den Kindern beachtet und fühlte sich ausgeschlossen 543
und einsam. Er verspürte das Bedürfnis, die Zeichensprache der Neandertaler zu erlernen.
Malenfant prägte sich Zeichen ein und wiederholte sie in Valentinas Gegenwart.
Zuerst hatte er nur einfache, konkrete Substantive und Adjektive zu erfassen vermocht, die eine klare Aussage enthielten: Die zum Mund geführte Hand für ›Nahrung‹ zum Beispiel und das Reiben des Bauchs für ›hungrig‹. Allmählich gelang es ihm, auch den Ausdruck abstrakterer Gedanken zu deuten. Zusammengeführte Zeigefinger schienen ›gleichartig‹ oder ›ähnlich‹ zu bedeuten; zwei aufeinander zeigende Finger bezeichneten ›Streit‹ oder ›Kampf‹. Bedeutung schien auch der Krümmung der Hände innezuwohnen, der Haltung relativ zum Körper und begleitenden Merkmalen wie Körpersprache, Haltung und Gesichtsausdruck. Außerdem schien der Zeichenabfolge eine Grammatik zugrunde zu liegen. War auch nur eins der Elemente falsch, so ergab das Zeichen den falschen oder gar keinen Sinn.
Er hatte den Eindruck, dass mehrere Zeichen gleichzeitig, als Bruchstücke mehrerer Wörter übertragen wurden. Die Neandertaler waren nicht darauf beschränkt, wie er linear zu sprechen – Wort für Wort. Sie vermochten ganze Informations-›Pakete‹ simul-tan zu übermitteln, und zwar mit einer viel höheren
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