Das Multiversum 2 Raum
jede Sekunde eine Tonne Atmosphärenmaterial wegrissen. Bei der Vorstellung, dass dieser Schauer energiereicher Teilchen auf ihn prasselte, schauderte Malenfant, der nackt im ›geerbten‹ Anzug steckte.
Die Neandertaler indes machten sich keine Sorgen. Sie zogen mit der Ausdauer von Ochsen, und die Spuren der drei Schlitten liefen in einer geraden Linie durch die Landschaft auf den Jupiter zu. Malenfant, der hundert Jahre auf dem Buckel hatte und sich 539
zudem noch von der Strahlenkrankheit erholte, blieb nichts anderes übrig, als sich ins Geschirr zu legen und von den anderen mit-ziehen zu lassen.
Er hatte die Neandertaler als regelrechte Arbeitstiere kennen gelernt. Sie setzten ihre mächtigen gorillaartigen Körper ein, wo der Homo sap mit Werkzeug hantiert hätte. Sie standen unter körperlicher Dauerbelastung. Malenfant sah, dass zum Beispiel Esaus Körper von alten Wunden, Narben und schlecht verheilten Knochen-brüchen gezeichnet war. Es war, als ob sie jeden Tag einen Berg bestiegen oder einen Marathonlauf absolvierten.
Aber die Neandertaler nahmen das als unvermeidliche Risiken hin.
Dafür zeichneten sie sich durch Naturverbundenheit und ur-wüchsige Körperlichkeit aus. Sie waren eins mit der Welt. Sie waren Geschöpfe ihrer Welt und hatten ein intensives Lebensgefühl.
Im Vergleich zu ihnen fühlte Malenfant, als das einzig verfügbare Exemplar der Spezies Homo sap, sich saft-und kraftlos, als ob er im Nebel umhertapste. Er gestand sich ein, dass er sie beneidete.
Die Neandertaler sangen auf der Wanderung – das heißt, sie waren in einen Singsang gefallen. Es war ein Lied über das Antlitz von Kintu. Kintu war eins der paar Wörter, die sie vokalisierten, und bezeichnete, wie Malenfant sich erinnerte, den Namen eines ugandischen Gottes, des Großvaters von Kimera. Das Lied handelte davon, dass Kintu sich so mit Atem aufblähte, bis Sterne und Welten aus seinem Körper platzten, wie Vulkane auf Io ausbra-chen. Kintu war Gott und das Universum für die Neandertaler, und das Antlitz von Kintu war ihr Name für Io – was er aber erst nach einer Weile herausfand.
Die Zeichen-und Gebärdensprache war unerlässlich für die Neandertaler, weil ihre magischen Anzüge keine Funkgeräte hatten.
Es war eine schöne Art der Verständigung, wenn man ihr denn zu folgen vermochte, eine Kombination aus Tanz und Sprache.
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Er ließ sich zeigen, wie man die sanitären Funktionen des Anzugs nutzte. Im Grunde war es ganz einfach – man musste nur sein Geschäft verrichten. Die Beschichtung des Anzugs absorbierte flüssige und feste Fäkalien; sie verschwanden einfach im transparenten Material, als ob sie aufgelöst würden. Das meiste zumindest. Unterwegs hatte Malenfant keine Möglichkeit, den Zauberanzug zu öffnen, diese Hülle, die vom Gestank eines toten alten Manns und nun auch von seinem eigenen Mief erfüllt wurde. Mit der Hygiene hatten die Neandertaler es nicht so. Nach ein paar Tagen sehnte Malenfant sich nach einer Dusche.
Nach einiger Zeit setzte Schneefall ein; feine blaue Kristalle rie-selten auf Malenfants Kopf und Schultern und puderten den Ba-saltuntergrund.
Valentina stupste ihn an und wies zum Horizont, wo ein Geysir blies. Das war der Ursprung des Schnees.
Die glitzernde Wolke stieg mehr als zehntausend Meter in den Weltraum empor. Die Wolke war blau und bestand aus Schwefeldioxid. Im oberen Teil der Wolke glitzerte das Eis hell: Es wurde von Jupiters magnetischen Winden ionisiert, und die geladenen molekularen, energiereichen Fragmente schimmerten wie eine kleine Aurora. An der Basis der Wolke strömte Lava. Vielleicht handelte es sich um flüssigen Schwefel. Zuerst floss er zäh und langsam wie Melasse, doch während er abkühlte, verbesserte die Fließ-
fähigkeit sich, bis er wie Maschinenöl an den flachen Hängen des Vulkans herabrann.
Eine vulkanische Wolke, die in der Dunkelheit glühte. Sie sah aus wie eine riesige verdrehte Röhre: Ebenso exotisch wie fremdartig und spektakulär. Seine Stimmung hob sich wie damals, als er Alpha Centauri ansichtig geworden war. Er verstand vielleicht nicht alles, was er sah. Aber er wusste nun, dass es sich gelohnt hatte, diesen Weg zu gehen – der wissenschaftlichen Erkenntnisse wegen hatte es sich gelohnt, es hatte sich gelohnt, all die unglaub-541
lichen Strapazen und Kulturschocks zu erleiden, und es hatte sich sogar gelohnt, sich von Neandertalern ohrfeigen zu lassen. Anbli-cke wie dieser entschädigten einen für alle Unbill.
Die
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