Das Multiversum 2 Raum
Jedoch war das hier nicht der Mond. Merkur bestand aus ei-608
nem massiven Eisenkern mit einer dünnen Gesteinskruste. Eine andere Welt mit anderen Herausforderungen.
Dann sah sie einen Doppelstern, eine helle Stecknadelkopf-Dou-blette. Der eine war leuchtend blau, der andere hatte eine fahle grau-weiße Färbung …
»Das ist natürlich die Erde.« Dorothy stand dicht neben ihr. In einem Anzug, der mit schwarzem Merkur-Staub förmlich imprägniert war, sodass er trotz des grellen Sonnenlichts fast unsichtbar war. Dorothys kugelförmiger Helm hatte eine starke Goldtönung; Madeleine sah ihr Gesicht nicht.
Sie tauschten ein paar belanglose Nettigkeiten aus; für eine Begegnung von so außergewöhnlichen Menschen wie ihnen, die Zeit und Raum überwunden hatten, gab es keine Etikette.
Dann marschierte Dorothy mit schwerem Tritt über die Ebene.
Madeleine folgte ihr widerwillig.
Der Regolith knirschte unter den Füßen; das Geräusch wurde deutlich in den Anzug übertragen. Sie hinterließ Fußabdrücke im jungfräulichen Staub, die so scharf konturiert waren wie auf dem Mond; und der Staub, den sie aufwirbelte, fraß sich ins Anzugsge-webe. Das Gehen fiel ihr ziemlich schwer in dieser doppelten Mond-Gravitation. Hier waren keine großen Sprünge drin.
Trotzdem war die Ähnlichkeit mit dem Mond groß – der gleiche gewellte, stark erodierte und kraterübersäte Boden. Die Oberfläche glich einem staubigen Meer. Nur dass die Erosion hier noch stärker war. Die Hügel – sie befand sich in der Nähe des Ringwalls vom Bernini-Krater – waren flach und mit Regolith bedeckt. Die kleineren Krater waren kaum mehr als Schatten ihrer selbst, Ab-drücke mit verschwommenen Konturen.
Sie hatte Dorothy nicht mehr gesehen, seit sie mit Malenfant auf der Heimatwelt der Gaijin gewesen war und die drei auf verschiedenen Routen ins Sonnensystem zurückgekehrt waren. Dorothy 609
kam Madeleine verändert vor: Verschlossener, geheimniskrämerisch, fast schon besessen. Irgendwie älter.
Dorothy wies auf ein Loch im Boden. »Hier lebe ich. In einem Suboberflächen-Schutzraum. Das ist gar nicht mal so schlimm.
Nicht, wenn man schon viele Jahre in Raumschiffs-Wohnmodulen zugebracht hat.«
Zu Madeleines Füßen lag ein abgeplatteter Stein, dessen Oberseite so glattgeschliffen wie eine Linse war. Sie bückte sich schwerfällig, scharrte im Boden und brach den Stein heraus. Er war größ-
tenteils im Boden versteckt gewesen wie ein Eisberg. Die Unterseite war scharfkantig und schrundig.
»Er liegt wahrscheinlich schon seit einer Milliarde Jahren hier«, sagte Dorothy, »nachdem er durch einen Einschlag um den halben Planeten geschleudert worden war. Und seitdem ist das Stück, das aus dem Boden ragte, Schicht um Schicht erodiert und abgeschlif-fen worden.«
Madeleine runzelte die Stirn. »Mikrometeoriten-Einschläge?«
»Nicht nur. Mittags wird es so heiß, dass Blei schmilzt. Und in der Nacht, die fast ein halbes Jahr dauert, ist es so kalt, dass Sauerstoff sich verflüssigt.«
»Also thermische Belastung.«
»Ja. Sie hat die Landschaft geformt. Der Sargnagel des Ingenieurs auf dieser kleinen heißen Welt. Kommen Sie mit. Ich möchte Ihnen zeigen, wie ich meinen Lebensunterhalt bestreite …«
Sie marschierten zügig durch einen flachen Krater, der mit Glas-splittern übersät war.
So kam es Madeleine auf den ersten Blick zumindest vor. Sie war von zarten Glasblättern umgeben, die den Regolith bedeckten und wie spitze Stacheln hervorstachen. Dann gab es noch eine andere Struktur: Kurze, dicke Zylinder, die wie winzige Kanonenrohre in alle Himmelsrichtungen wiesen. Es war wie ein Skulpturen-park.
610
Dorothy marschierte unermüdlich weiter, wobei sie achtlos über die blütenförmigen Glasscheiben hinwegging und ein paar zertrat.
Madeleine passte besser auf. »Wir sind imstande, Sonnensegel direkt aus dem Gestein sprießen zu lassen«, sagte Dorothy. »Sie sind gentechnisch veränderte Abkömmlinge der Vakuum-Blumen auf dem Mond. Ich habe mich selbst in diese Technik eingearbeitet.
Es ist gut, einen Beruf zu haben auf einer Welt, auf der man für die Luft zahlen muss, die man atmet, finden Sie nicht?« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Wenn Sie das nächste Mal ein Sonnensegel-Schiff sehen, denken Sie an diesen Ort und daran, wie diese Schiffe geboren werden – sie wachsen direkt aus dem Gestein unter Ihren Füßen. Das ist wunderschön, nicht?«
Sie gingen weiter. Madeleine erkundigte sich nach Malenfant.
Dorothy
Weitere Kostenlose Bücher