Das Multiversum 2 Raum
war kantig geworden, die Wangenknochen traten hervor, und die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Ihre Stimme drang wie das Zirpen eines Insekts aus den Lautsprechern der Softscreen. »Wie finden Sie die Konferenz?«
»Nicht besonders.« Er teilte mit ihr die Abneigung gegen philosophisches Gesülze.
»Aber es hätte schlimmer sein können. Hier habe ich noch ein wenig Philosophie für Sie. ›Ich glaube, so wird die Welt enden – mit einem Kichern all der Schlauköpfe, die das für einen Scherz halten.‹ Kierkegaard.«
»Er hat recht.« Wer auch immer er war.
»Philosophie vermag uns manchmal zu leiten, Malenfant.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel die Idee des Gleichgewichts …«
Es war, als ob sie ein Gespräch wiederaufgenommen hätten, das sie mit Unterbrechungen die letzten neun Jahre geführt hatten; ein langsames Herantasten ans koan.
Nach der Berühmtheit, die sie durch die Meldung der Präsenz der Aliens im Gürtel erlangt hatten, hatte Nemoto sich rar ge-56
macht. Sie hatte alle Einladungen zu öffentlichen Auftritten abgelehnt, hatte ihre Arbeitsstelle gekündigt, Forschungsaufträge von einem Dutzend der renommiertesten Universitäten und Unternehmen der Welt abgelehnt und war regelrecht untergetaucht. Malenfant war in dieser Zeit mit abnehmender Begeisterung durch die Weltgeschichte gegondelt und hatte die schlechten Kritiken beziehungsweise die Lobpreisungen der Leute über sich ergehen lassen, die sich in seinem Ruhm sonnten. Sie war ein Armstrong gewesen, sagte er sich manchmal, und er ein Aldrin.
Aber sie führte ihre Forschungen fort – obwohl er nicht wusste, welches Ziel sie verfolgte und woher sie das Geld dafür nahm.
Sie mochte die Gaijin nicht. Das stand jedenfalls fest.
»Wir hatten uns nur zwei mögliche Gleichgewichtszustände vorgestellt«, sagte sie leise. »Wir haben diesen Augenblick, den Augenblick des Erstkontakts als Übergang zwischen zwei Gleichgewichtszuständen definiert, der jedoch so kurz war, dass wir ihn nicht bewusst erlebt haben. Aber was, wenn das nicht stimmt? Was, wenn dies der wirkliche Zustand des Gleichgewichts ist?«
Malenfant runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht. Der Kontakt ändert doch alles. Wie soll man eine Veränderung als Gleichgewicht beschreiben?«
»Wenn es mehr als einmal passiert. Immer und immer wieder.
In diesem Fall ist es kein Zufall, dass ich hier und jetzt lebe, um Zeuge dieses Ereignisses zu werden. Es ist kein Zufall, dass wir just in diesem Moment eine Kultur haben, die imstande ist, die Signale aufzufangen und sogar eine Art Kontakt herzustellen. Weil es nicht einmalig ist.«
»Wollen Sie damit sagen, das sei schon einmal passiert? Dass fremde Wesen hier gewesen sind? Wohin sind sie dann gegangen?«
»Mir fällt keine Antwort ein, die mir nicht Angst machen würde, Malenfant.«
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Er musterte sie. Ihre Augen waren fast unsichtbar, und das Gesicht eine ausdruckslose Maske. Der Hintergrund war dunkel und anonym, zweifellos über die Manipulation durch Bildbearbei-tungs-Routinen erhaben.
Er suchte nach Worten. Du verbringst zu viel Zeit allein. Du musst mehr unter die Leute gehen. Aber er vermochte sich kaum als Freund dieser merkwürdigen, besessenen Frau zu bezeichnen. »Sie verbringen viel Zeit damit, über diese Dinge nachzudenken, nicht wahr?«
Sie schien pikiert. »Das ist das Schicksal der Spezies.«
Er seufzte. »Aus welchem Grund haben Sie mich angerufen, Nemoto?«
»Um Sie zu warnen«, sagte sie. »Es stimmt nicht ganz, dass wir darauf warten, dass Frank Paulis und seine Sonde uns neue Daten liefern. Es gibt zwei Punkte, die von Interesse sind. Einmal eine neue Interpretation. Es ist mir gelungen, Muster aus der InfrarotSignatur der Gaijin im Gürtel zu erschließen. Ich glaube, ich habe ihr Muster der Ausbreitung gefunden.«
Ihr Gesicht verschwand und wich einem virtuellen Display des Typs, den sie ihm in der Abgeschiedenheit des Mondes gezeigt hatte. Es war ein Ring aus glitzernden roten Tropfen, der sich langsam drehte: Der Asteroidengürtel mit den dunklen Kirkwood-Lü-
cken. Und da war auch die Lücke mit der Eins-zu-Drei-Resonanz mit Jupiter, mit der Kette der geheimnisvollen hellen Rubine.
»Schauen Sie, Malenfant …«
Malenfant beugte sich dicht über den Bildschirm und betrachtete die kleinen Lichtperlen. Die Bilder wurden von kleinen Vektor-pfeilen flankiert, die Geschwindigkeit und Beschleunigung markierten. Er sah, dass die Rubine sich nicht in simplen Kreisen um die Sonne bewegten;
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