Das Multiversum 2 Raum
Raumschiffs-Montagegebäude. Es war noch früh am Morgen. Der Platz war verlassen. Sand wurde über den leeren Parkplatz geweht und zu kleinen Dünen angehäuft.
Sie ging zur alten hölzernen Pressetribüne hinüber, die wie eine Tribüne in einem Sportstadion aussah. Sie setzte sich und schaute gen Osten. Die Sonne hatte schon Kraft und stach ihr in die Augen; das Licht spannte ihr Gesicht wie ein Trommelfell. Zur Rechten waren die Raketen-Startrampen, die sich in südlicher Richtung 140
erstreckten. Im Dunst wirkten sie zweidimensional und farblos.
Die meisten waren außer Betrieb, teils demontiert und dienten als Museumsstücke. Es lag eine starke Aura des Niedergangs und Verfalls über dem Ort.
Es hatte sich herausgestellt, dass Sally Brind für Bootstrap arbeitete, des Rumpfs der Firma, die vor drei Jahrzehnten ein Raumschiff zur Gaijin-Basis im Asteroiden-Gürtel entsandt hatte.
Madeleine war nicht sonderlich an den Gaijin interessiert. Sie war ein paar Jahre nach ihrer Ankunft im Sonnensystem geboren worden; sie waren nur ein Teil ihres Lebens, und nicht einmal ein sehr aufregender Teil. Aber sie wusste, dass die Gaijin vier Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung – und ganze neunzehn Jahre, nachdem sie vom Gürtel zur Erde gekommen waren — so etwas wie ein Handelssystem mit der Menschheit etabliert hatten. Wobei der Auslöser für ihr Erscheinen anscheinend Reid Malenfants Reise gewesen war.
Die Menschheit verdankte ihnen ein paar technische Neuerun-gen: Robotik, Vakuum-Industrien und ein paar Nano-Technik-Tricks wie die Asteroidenbergbau-Decken. Das hatte genügt, um ein Dutzend Branchen zu revolutionieren und hundert Leuten zu einem Vermögen zu verhelfen. Außerdem hatten die Gaijin menschliche Wissenschaftler zu Forschungs-Missionen auf andere Planeten geflogen: Mars, Merkur, sogar die Jupitermonde. (Komischerweise aber nicht zur Venus, trotz wiederholter Bitten.) Und dank der Gaijin bezog die Erde inzwischen einen signifikanten Anteil ihrer Ressourcen aus dem All: Rohstoffe von den Asteroiden, einschließlich Edelmetalle und sogar Energie, die von großen Kollektoren am Himmel als Mikrowellen abgestrahlt wurde.
Die Menschen – beziehungsweise die Regierungen und Firmen, die mit den Gaijin zusammenarbeiteten – ›bezahlten‹ für all das mit Ressourcen, die auf der Erde reichlich vorhanden, sonst aber knapp waren: Insbesondere Schwermetalle und ein paar komplexe 141
organische Stoffe. Die Gaijin hatten auch eine Landeerlaubnis auf der Erde sowie das Angebot kultureller Kontakte erhalten. Die Gaijin hatten sich seltsamerweise für ein paar menschliche Ideen interessiert, und Scharen von Schriftstellern, Philosophen, Theolo-gen und sogar ein paar geschmähte Science Fiction-Autoren waren geladen worden, um sich mit den außerirdischen ›Botschaftern‹
auszutauschen.
Die Regierungsbehörden und die Unternehmen, die davon profi-tierten, schienen das ganze Arrangement als vorteilhaft zu betrachten. Nachdem die großen Dreckschleuder-Industrien – Stromerzeu-gung und Bergbau – von der Erde verbannt worden waren, standen die Chancen gut, dass die Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts Priorität bekam.
Das stieß nicht überall auf Zustimmung. Die Schließung der Bergwerke und das Abschalten der Kraftwerke löste eine Welle von Wirtschafts-und Umweltflüchtlingen aus. Und es gab auch viele Flüchtlinge im eigentlichen Wortsinn – zum Beispiel die armen Seelen, die heimatlos wurden, weil man in weiten Teilen des Äqua-torgebiets Mikrowellen-Empfangsstationen einrichtete.
Die Umwälzungen durch die Gaijin hatten, wie vorherzusehen war, Armut verursacht, sogar Hungersnöte und Kriege.
Und letzteren verdankte Madeleine ihren Lebensunterhalt. Aber jeder musste zusehen, wo er blieb.
»… Dies ist ein geschichtsträchtiger Ort. Interessant, nicht wahr?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Eine Frau saß in der Tribünenreihe hinter Madeleine. Ihre knochigen Handgelenke lugten aus einem umweltsensiblen Biokomposit-Anzug. Sie musste um die Sechzig gewesen sein. Ein Mann war in ihrer Begleitung: Mindestens genauso alt, dunkel, kleinwüchsig und vierschrötig.
»Sie sind Brind.«
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»Und Sie sind Madeleine Meacher. Freut mich. Das ist Frank Paulis. Er ist der Chef von Bootstrap.«
»Ich erinnere mich an den Namen.«
Er grinste mit kaltem Blick.
»Was soll ich hier, Brind?«
Statt zu antworten wies Brind nach Osten auf die Baumreihe jenseits des Banana River. »Ich habe früher für
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