Das Multiversum 2 Raum
vor.
■
Am nächsten Tag sagte Nemoto, dass sie ihn mit an die Oberflä-
che nehmen wolle, damit er die Ergebnisse ihrer Infrarot-Spektros-kopie aus erster Hand sehen könne.
Sie gingen durch die Basis zu einer Fahrzeug-Luftschleuse und stiegen wieder in die Anzüge. Die Infrarotstation war eine ›Auto-stunde‹ von Edo entfernt.
Einen Kilometer hinter Edo passierte das Fahrzeug eine der größten Strukturen, die Malenfant je gesehen hatte. Es war ein vielleicht hundertfünfzig Meter langer und zehn Meter durchmessender Zylinder. Er sah aus wie ein halb vergrabenes Atom-U-Boot.
Die Mondoberfläche war hier von großen Rinnen zerfurcht, offensichtlich Spuren von Tagebau. Um den zentralen Zylinder zogen sich Gebilde, die wie Hochöfen aussahen und von halbdurchsichti-gen Kuppeln überwölbt wurden.
19
»Unser Fusionskraftwerk«, sagte Nemoto. »Edo wird durch die Fusion von Deuterium, dem Wasserstoffisotop mit Helium-3 betrieben.«
Malenfant schaute mit morbidem Interesse hin. Auf diesem wie auch auf anderen Gebieten der Technik waren die Japaner den Amerikanern inzwischen voraus. Zwanzig Prozent der amerikanischen Energie stammten bereits aus der Fusion der zwei Wasser-stoffisotope, Deuterium und Tritium. Allerdings hatten Wasser-stofffusions-Prozesse sich als instabil und teuer erwiesen, selbst mit diesem relativ unergiebigen Brennstoff: Energiereiche Neutronen durchschlugen die Reaktorwände, zermürbten und verstrahlten sie.
Der Helium-3-Fusionsprozess der Japaner erzeugte jedoch Proto-nen, die man wegen ihrer Ladung mit Magnetfeldern von den Reaktorwänden fernzuhalten vermochte.
Freilich gab es auf der Erde keine natürlichen Helium-3-Vorkom-men.
Nemoto machte eine Handbewegung. »Auf dem Mond gibt es riesige Helium-3-Lagerstätten, die in Schichten aus Titan-Mineralien in den obersten drei Metern des Regolith eingeschlossen sind.
Das Helium stammt von der Sonne und wird vom Sonnenwind herangetragen; das Titan verhält sich wie ein Schwamm und saugt die Helium-Teilchen auf. Wir haben auch vor, Helium zur Erde zu exportieren.«
»Ich weiß.« Durch den Export würde Edo autark werden.
Sie lächelte fröhlich und voller Zukunftsoptimismus.
Als Edo außer Sicht war, fuhr das Fahrzeug an einem Steinhau-fen vorbei. Darauf standen eine Sake- Flasche, eine Schale mit Reisküchlein und eine Porzellanfigur. Die Figur wurde von Papierfähnchen flankiert, die vom ungefilterten Sonnenlicht ausgebleicht waren.
»Das ist ein Schrein«, sagte Nemoto. »Für Inarisamma. Den Fuchs-Gott.« Sie lächelte ihn an. »Wenn Sie die Augen schließen 20
und in die Hände klatschen, kommen vielleicht die kami zu Ihnen. Die Gottheiten.«
»Ein Schrein? In einem Industriekomplex auf dem Mond?«
»Wir sind ein altes Volk«, sagte sie. »Rein äußerlich sind wir mit der Zeit gegangen, doch mental haben wir uns nicht verändert. Ya-mato damashi – unser Geist – hat überdauert.«
Schließlich erreichte das Fahrzeug einen Gebäudekomplex in der Ebene. Dies war die Infrarot-Forschungsstation von Nishizaki Heavy Industries.
Nemoto überprüfte Malenfants Anzug und entriegelte das Schott.
Malenfant kletterte steif eine kurze Leiter hinunter. Während er sich ungelenk bewegte, hörte er das Zischen der Luft und das leise Surren der Servomotoren des Exoskeletts. Diese robotischen Muskeln halfen ihm dabei, den Anzugsdruck und das Gewicht der Strahlenschutzpanzerung aus Wolfram zu bewältigen.
Der Helm war eine große goldgetönte Kugel. Der Tornister war der gleiche wie Nemotos, ein halbdurchsichtiges Gerät mit Schläuchen und schwappendem Wasser – sechs Liter voll mit Blaualgen, die sich von Sonnenlicht und seinen Ausscheidungen ernährten und so viel Sauerstoff erzeugten, dass es bis in alle Ewigkeit gereicht hätte. Theoretisch zumindest.
Malenfant vermisste jedoch seinen alten Anzug: Die Space Shuttle-EMU, die Mobilitätseinheit für Außeneinsätze mit den rat-ternden Pumpen und surrenden Lüftern. Vielleicht war er dieser neuen Technik unterlegen. Aber er hasste es, einen Tornister zu tragen, in dem es schwappte, um Gottes willen, und dessen Masse ihn in der geringen Schwerkraft ständig in eine andere Richtung zerrte. Und die robotischen Muskeln – die jeden Impuls verstärkten, die Gliedmaßen für ihn bewegten und den Kopf neigten –, vermittelten ihm das Gefühl, eine Marionette zu sein.
21
Den letzten Meter ließ er sich fallen; beim Aufprall wurde eine kleine Staubwolke aufgewirbelt, die sich aber
Weitere Kostenlose Bücher