Das Multiversum 2 Raum
allmählich den Eindruck, dass die Gaijin auch nicht viel mehr wussten als die Menschheit: Dass auch sie sich einen Weg durch diese Galaxis aus Ruinen und Schlachtfeldern suchten und zu ergründen versuchten, weshalb das alles geschah.
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Weil er hauptsächlich auf die Habitate angewiesen war, die die Gaijin bereitstellten, war Malenfant praktisch ein Gefangener.
Nach einiger Zeit – nach Jahren – erkannte er, dass er sich in ein-gefahrenen Bahnen bewegte, sonderlich wurde und sich an den kleinen Ritualen festhielt, die den Tagesablauf bestimmten.
Er entwickelte eine geradezu innige Beziehung zu seinem Anzug, der Shuttle-EMU, die sein einziger Besitz war. Er verbrachte Stunden damit, ihn zu reparieren, instand zu halten und zu reinigen.
Und er war auch sehr darauf bedacht, dass das animierte Foto von Emma genau in der Tasche des Raumanzugs aufbewahrt wurde, wo es seit Jahren gesteckt hatte. Er kannte bereits jedes Korn der Fotografie, kannte den Bewegungsablauf und den Ton auswendig.
Und er vermochte die Vorstellung nicht zu ertragen, dass das Bild verblasste und zu einem weißen Stück Papier verblich; das wäre so, als ob seine eigene Existenz ausgelöscht würde.
Nach einiger Zeit hatte er das Gefühl, dass er krank wurde. Er spürte, dass er schwächer wurde. Wenn er sich in die Wange kniff – oder sich sogar schnitt –, schmerzte es nicht so, wie es eigentlich sollte.
Allerdings beunruhigte ihn das nicht, eingesponnen wie er war in den Kokon des Habitats.
Er fand auch heraus, dass die Gaijin nicht von solchen Problemen geplagt wurden.
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Ihre mentale Disposition war eine ganz andere. Sein Bewusstsein beruhte auf quantenmechanischen Prozessen, die im Gehirn abliefen. Aus diesem Grund musste sein Gehirn – und der Körper, das Trägersystem des Gehirns – transportiert werden und litt deshalb unter jeder Sattelpunkt-Transition.
Kassiopeias ›Bewusstsein‹ glich eher einem Computerprogramm.
Es bestand ausschließlich aus klassischen Informationen, Daten, die man nach Belieben kopieren und speichern konnte, Daten, die für eine Übertragung durch die Sattelpunkte nicht gelöscht werden mussten. Wenn sie ›durch‹ ein Tor ging, wurde Kassiopeias Programm einfach angehalten. Deshalb zehrte sie auch weniger vom Vorrat der verknüpften Zustände der Sattelpunkt-Verbindungen.
Er war freilich nicht Philosoph genug, um ihr deshalb ein Bewusstsein und eine Seele abzusprechen.
Es gab noch weitere Unterschiede.
Periodisch sah er die Gaijin zu Tausenden wie Heuschrecken über die Hülle eines Blumen-Schiffs ausschwärmen. Sie vereinigten sich zu wogenden funkelnden Flächen, als ob sie miteinander verschmölzen, und dann lösten die Gaijin sich wieder voneinander, als ob sie aus einem gelösten Stoff tropften.
Der Zweck dieser parlamentarischen Versammlungen schien dem Informationsaustausch zu dienen, vielleicht auch der Entschei-dungsfindung. Wenn das stimmte, dann war es ein effizientes System. Die Gaijin mussten nicht miteinander sprechen, wie Menschen es taten und versuchen, die Aussagen der anderen mühsam zu interpretieren. Sie brauchten nicht zu argumentieren und zu überzeugen; die gemeinsamen Daten und Interpretationen des Ver-schmelzungszustands waren entweder gültig und nützlich, oder sie waren es nicht.
Aber woher sollte man wissen, ob dieser Gaijin, der aus dem Verbund sich löste, dasselbe Individuum war wie das, das sich dem Ver-240
bund angeschlossen hatte? Hatte es überhaupt einen Sinn, diese Frage zu stellen?
Für die Gaijin waren Bewusstsein und sogar Identität fließend und formbar. Für sie war Identität etwas, das kopiert, gelöscht, geteilt und verschmolzen wurde; er hatte den Eindruck, dass es nicht darauf ankam, ob das Selbst verloren ging, solang nur Kontinuität bewahrt wurde – damit jeder Gaijin in seiner jetzigen Zustandsform die gemeinsamen Erinnerungen auf einem komplexen Pfad bis zu dem fernen Ort zurückzuverfolgen vermochte, der den Ersten von ihnen hervorgebracht hatte.
Und genauso vermochten sie wohl eine grenzenlose Zukunft der Wahrnehmung, wenn nicht der Identität vorwegzunehmen, sagte er sich. Eine kalte mechanische Unsterblichkeit.
Er interessierte sich immer weniger für das Kaleidoskop der Welten, das die Gaijin ihm zeigten. Obwohl er überall, wohin er auch schaute, Leben sah. Leben und Krieg und Tod. Er versuchte zu begreifen, was die Gaijin ihm sagen wollten – was sie von ihm verlangten.
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kapitel 14
TRÄUME VON
ALTVORDEREN
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