Das Multiversum 2 Raum
hundertfünfzig Jahre 244
alt sein, vermutete Madeleine; der Lack war abgeblättert, und die alten ESA-Markierungen waren stark verblichen. Moose und Flechten wucherten an der Rakete; die Vegetation ergriff vom Booster Besitz und degradierte ihn zu einem Relikt wie die Ruinen eines Maya-Tempels.
Madeleines Auftraggeber saß vor einem kleinen butsudan, einer Buddha-Statue im Schneidersitz auf dem Boden. Es handelte sich um eine Japanerin, eine kleine runzlige Frau mit einem eingefalle-nen Gesicht, das von tiefen Furchen durchzogen wurde. Die paar grauen Büschel, die vom Haar noch übrig waren, klebten an einer leberfleckigen Kopfhaut. Sie war 1990 geboren. Damit war sie hun-dertvierzig Jahre alt und näherte sich der Rekordmarke. Niemand wusste, wie sie das schaffte.
Es war natürlich Nemoto.
Nemoto berührte eine geschnitzte Statue. »Ein Buddha«, sagte sie, »aus geschmolzenem Regolith aus dem Mare Ingenii. Früher wäre das ein exotisches Artefakt gewesen.« Sie erhob sich mühsam und ging zu einer Kaffeekanne. »Möchten Sie welchen? Ich habe auch grünen Tee da.«
»Nein. Ich verbrenne mir immer so schnell den Mund.«
»Das ist natürlich eine Einbuße.«
»Allerdings.« Dass sie keinen heißen schwarzen Kaffee mehr trinken durfte, war das Diskontinuitäten-Handicap, das Madeleine am schmerzlichsten spürte.
Sie musterte Nemoto, diese Sagengestalt aus der tiefen Vergangenheit. Allerdings verspürte sie nicht das erwartete Gefühl der Ehrfurcht oder Neugier, nur Benommenheit und Ungeduld.
»Wann soll ich mit der Arbeit anfangen?«
Nemoto lächelte verhalten. »Gleich zur Sache, Meacher? Sobald Sie bereit sind. Der erste Start findet in einem Monat statt.«
Madeleine war damit beauftragt worden, zweihundert junge Astronauten auf den Raumflug vorzubereiten.
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»Keine Astronauten«, korrigierte Nemoto sie. »Emigranten.«
»Auswanderer nach Triton.«
»Ja. Zweihundert Aborigines aus dem Outback, die auf einem Neptunmond eine Nation gründen wollen. Eine inspirierende Vorstellung, finden Sie nicht?«
Oder eine absurde, sagte sich Madeleine.
»Ihre Aufgabe besteht darin, sie an die Mikrogravitation zu ge-wöhnen. Wir haben hier eine Hydrotrainings-Anlage und dergleichen errichtet. Sorgen Sie nur dafür, dass sie sich nicht übergeben oder ausflippen, ehe wir sie zum Transporter übersetzen. Ich habe Ben Roach beauftragt, Sie in den ersten Tagen zu unterstützen. Er ist zwar ein Klugscheißer, aber er hat auch seine Vorzüge.«
Madeleine versuchte sich darauf zu konzentrieren, was Nemoto sagte, auf die Einzelheiten ihres bizarren Plans. Triton? Wieso, um Gottes willen? In dieser fremden Umgebung und mit den Nach-wirkungen der Diskontinuität fiel ihr die Konzentration schwer.
Nemoto musterte Madeleine prüfend. »Sie sind – desorientiert.
Wir beide sind Spiegelbilder, Relikte des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die in einer unvorhergesehenen Zukunft gestrandet sind.
Der einzige Unterschied besteht darin, wie wir hierher gekommen sind. Sie durch relativistische Hüpfer und Sprünge über Lichtjahre und Jahrzehnte – die leichte Route.« Sie grinste. »Und ich bin den beschwerlichen Weg gegangen.« Madeleine sah, dass ihre Zähne schwarz waren.
»Aber wir beide sind durch diese Erfahrung beschädigt, jeder auf seine Art«, sagte sie.
Nemoto zuckte die Achseln. »Mir ist dafür die ganze Macht zu-gefallen.«
»Zumindest Macht über mich.«
»Meacher, ich brauche noch eine Besatzung für den Transport.«
»Sie bieten mir einen Flug zum Triton an?«
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»Falls Sie interessiert sind. Die Diskontinuität wird keine große Beeinträchtigung darstellen, wenn …«
»Vergessen Sie's.«
Madeleine stand auf. Das linke Bein knickte ein, und sie wäre gestürzt, wenn sie sich nicht am Tisch festgehalten hätte. Es hatte den Anschein, als ob sie die ältere Frau wäre. Sie wurde sich bewusst, dass sie auf dem Bein gesessen und die Blutzufuhr unterbrochen hatte. Das hatte sie vorher natürlich nicht bemerkt, zumal diese Beeinträchtigung so geringfügig war, dass der Biocomp-Anzug sie überhaupt nicht registrierte.
Nemoto beobachtete sie berechnend und ohne Sympathie. »Die Triton-Kolonie ist von größter Wichtigkeit«, sagte sie. »Von strategischer Bedeutung.«
Das war die Nemoto, wie Madeleine sie kannte. »Sie arbeiten noch immer für die Zukunft der Spezies, Nemoto.«
»Ja, wenn Sie es wissen wollen.«
Madeleines Zuversicht sank. Mit Nemoto vernünftig zu reden würde schwierig werden.
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