Das Multiversum 2 Raum
– aber wir haben es nicht vergessen; wir, ein Volk, das schon einmal alles verloren hat.«
Noch mehr Blätter wurden aus einem sich verdunkelnden, von Raketenabgasen geschädigten Himmel herangeweht.
Ben sagte ihr, dass er aus Zentralaustralien stammte und zum Stamm der Yolgnu gehörte. »Als ich ein Junge war, lebte meine Familie am Ufer eines Flusses, nach alter Väter Sitte. Dann kamen die Behörden, die weißen Männer, und brachten uns an einen Ort namens Framlingham. Der bestand nur aus einer Reihe von Holz-und Wellblechhütten. Als ich acht Jahre alt war, brachten andere weiße Männer mich in ein Waisenhaus. Die Männer waren vom Aboriginal Protection Board. Als sie mich für zivilisiert genug hielten, schickten sie mich zu Pflegeeltern nach Melbourne. Eine weiße Familie namens Nash. Sie war reich und gut zu mir. Sehen Sie, es war die Politik der Regierung, das Problem der Aborigines ein für allemal zu lösen, indem sie mich zu einem Weißen machten.«
Das machte sie fassungslos und betroffen. »Sie müssen sie doch hassen«, sagte sie.
Er lächelte. »Das war auch nicht das erste Mal. Sie hatten immer schon Angst gehabt; zuerst vor den Japanern, dann vor den Indo-nesiern und Chinesen, die aus dem Norden kamen und ein Auge auf Australiens weites Land und die Bodenschätze warfen. Und nun haben sie vielleicht Angst, dass die Gaijin kommen und ihnen ihr Land wegnehmen wollen. Und jedes Mal benutzen sie uns, 255
um ihre Angst zu kompensieren. Ich hasse sie nicht. Ich verstehe sie sogar.«
Zu ihrem Erstaunen hatte er einen Doktor in Astrophysik. Aber es hatte ihn wieder nach Framlingham gezogen, wie auch andere seiner Generation. Allmählich hatten sie einen Traum von einem neuen Leben verwirklicht. Fast alle Leute, die nach Triton auswanderten, kamen von Framlingham, sagte er. »Wir haben es kaum übers Herz gebracht, das alte Land zu verlassen. Aber wir werden ein neues Land finden und unsre eigene Welt erschaffen.«
Ben servierte ihr Sambuca, einen italienischen Schnaps: Der schien zur Zeit ein Modegetränk zu sein. Sambuca war ein klarer Schnaps mit Anisgeschmack. Ben warf Kaffeebohnen in ihr Glas und flambierte den Schnaps im erlöschenden Tageslicht. Der Al-kohol brannte mit blauer Flamme, im Glas über der Flüssigkeit, und die Kaffeebohnen zischten und knackten. Durch die Flammen wurde das Öl aus den Bohnen gelöst und verlieh dem Alko-hol ein Kaffeearoma.
Er erstickte die Flammen und nippte vorsichtig an ihrem Glas, um die Temperatur zu prüfen, damit Madeleine sich nicht den Mund verbrannte. Die heiße Flüssigkeit war so hochprozentig, dass sie die Grenzen der Diskontinuität verschob.
Sie setzten sich unter den Nachthimmel, und bald kamen die Sterne hervor.
Ben zeigte ihr die Sternbilder und unterwies sie in der Geographie des Himmels, indem er sie auf andere Merkmale des Firma-ments aufmerksam machte.
Da war der Himmelsäquator, eine unsichtbare Linie, bei der es sich um eine Projektion des Erdäquators auf den Himmel handelte. An ihrem Standort verlief der Äquator natürlich direkt über ihren Köpfen. Lichter bewegten sich lautlos entlang dieser Linie, wie Feuerkäfer im Formationsflug. Das waren orbitale Strukturen: Fabriken, Wohnanlagen, sogar Hotels. Viele gehörten den Chine-256
sen, sagte Ben; chinesische Firmen hatten nämlich enge Geschäftsbeziehungen mit den Gaijin geknüpft. Dann kam er auf eine andere unsichtbare Linie zu sprechen, die als Ekliptik bezeichnet wurde. Die Ekliptik war der Äquator des Sonnensystems, die Ebene, in der die Planeten kreisten. Sie unterschied sich natürlich vom Erdäquator, weil die Erdachse um dreiundzwanzig Grad geneigt war.
… Das heißt, die Ekliptik war einmal unsichtbar gewesen. Madeleine sah, dass sie nun von einem Kreis neuer Sterne mittlerer Helligkeit nachgezeichnet wurde, von denen manche weiß, andere wiederum gelb und orangefarben leuchteten. Es glich einer Straßenbe-leuchtung.
Diese Lichter waren Städte, wie Madeleine erfuhr: Die neuen Gaijin-Gemeinschaften, die aus riesigen ausgehöhlten Gesteinsbrocken aus dem Asteroidengürtel stammten und von Fusionslicht erhellt wurden. Kein Mensch war bisher näher als eine astronomische Einheit an diese neuen Lampen im All herangekommen.
Es war ein schaurig-schöner und erstaunlicher Anblick dazu. Die Menschen dieser Zeit waren damit aufgewachsen. Der Himmel ist voller Städte und riesiger fremdartiger Ruinen. Mit neuartigen Te-lefonen und Toiletten vermochte sie noch klarzukommen.
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