Das Multiversum 3 Ursprung
Maxie erwachten allmählich. Sie wollten den Wald auf gar keinen Fall verlassen. Emma hielt es aber für angebracht, den Nachbarn ›Guten Morgen‹ zu sagen.
Sie trat aus dem Wald heraus.
Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war noch immer grau und mit Wolken verhangen, und das Grasland wirkte auch nicht sehr einladend. Wenn sie nicht eines besseren belehrt worden wäre, hätte sie es für unbewohnt gehalten; die zusammengetra-genen Äste und Steine schienen eher zufällig dort herumzuliegen.
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Und doch lebten hier Hominiden – Leute –, die von fern genauso menschlich wirkten wie sie. Jeder von ihnen war so nackt wie ein Neugeborenes. Und sie sprachen Englisch. Diese ganze Fremdartigkeit drohte sie erneut zu überwältigen.
Ich will nicht hier sein und mit diesem bizarren Mist konfrontiert werden, sagte sie sich. Ich will zuhause sein und alle Annehm-lichkeiten der Zivilisation genießen.
Aber es dauerte nicht lang, bis sie förmlich bettelte, am gedachten Tisch dieser Hominiden Platz nehmen zu dürfen. Sie hatte keinen Zweifel, dass diese großen, starken Vormenschen viel besser in dieser Wildnis zu überleben vermochten als sie. Sie wusste auch, dass diese Fähigkeit größte Bedeutung erlangen würde, wenn sie nicht in den nächsten Tagen aus dieser Lage gerettet wurden. Also zwang sie sich, zu ihnen hinzugehen.
Ein paar Frauen stillten ihre Kinder. Ältere Kinder rangen unbeholfen miteinander – und stumm, außer vereinzeltem Rufen und Kreischen. Die Kinder muteten am wenigsten menschlich an; ohne die großen und menschlichen Körper der Erwachsenen dominier-ten die dicken Brauenwülste und flachen Schädel das Erschei-nungsbild der Kinder, so dass sie Emma eher an Schimpansen erinnerten.
Bei der Begegnung mit den Hominiden tags zuvor hatte sie ein paar ihrer Funktions-Namen aufgeschnappt. Der Junge, der ihr die Raupe gegeben hatte, wurde Feuer genannt. Im Moment kümmerte Feuer sich um die alte Frau auf dem Boden, die Singen hieß. Er schien sie zu füttern oder ihr Wasser zu geben. Anzeichen für fa-miliäre Bande, für Pflege der Alten und Schwachen? Das erstaunte Emma irgendwie. In Anbetracht ihrer Lage empfand sie es aber auch als beruhigend.
Der größte Mann – Stein, der dominante Typ, der sich Sally ge-krallt hatte – saß in der Nähe der qualmenden Feuerstelle auf dem 71
Boden. Er durchsuchte einen Haufen Steine. Er war der Anführer, vermutete sie – zumindest der Anführer der Männer.
Sie nahm allen Mut zusammen und setzte sich ihm gegenüber.
Er schaute sie finster an. Die braunen Augen unter den schweren Lidern und buschigen Brauen waren Ausrufezeichen von Feindseligkeit und Misstrauen. Er erhob sogar die Faust gegen sie, eine mächtige Pratze mit einem stumpfen Stein.
Aber sie saß mit offenen Händen ruhig da. Vielleicht erinnerte er sich an sie. Oder vielleicht gelangte er auch zu der Erkenntnis, dass sie keine Bedrohung darstellte. Auf jeden Fall nahm er die Hand herunter.
Dann schien er sie zu vergessen und wandte sich wieder den Steinen zu. Er nahm einen großen Brocken in die Hand, der wie schwarzes Glas aussah; es musste Obsidian sein, ein vulkanisches Glas. Er drehte und wendete es und unterzog es einer gründlichen Prüfung. Die Bewegungen waren wieselflink, und die Blicke huschten über den Gesteinsbrocken.
Er hatte harte Muskeln und eine straffe Haut. Das Haar war dicht gelockt und graumeliert. In der Stadt wäre er mit dem Gesicht gar nicht weiter aufgefallen – sofern er einen Hut getragen hätte, um diesen Schrumpfkopf zu verbergen. Jedoch wurde das Gesicht von einer gezackten roten Narbe entstellt.
Dem Aussehen nach schätzte sie ihn auf etwa fünfzig. Das genaue Alter war in Anbetracht der besonderen Umstände aber schwer zu bestimmen.
Er zog einen anderen Stein aus dem Haufen, einen runden Kieselstein. Den benutzte er als Hammer und bearbeitete mit festen und routinierten Schlägen den Obsidian. Splitter flogen umher, und nun bemerkte Emma, dass er Blätter auf dem Schoß liegen hatte, um die Genitalien vor umherfliegenden Gesteinssplittern zu schützen. Er arbeitete zügig und zielstrebig – schneller als ein Mensch es vermocht hätte, sagte sie sich, schneller und instinkti-72
ver zugleich. Sie hatte weniger das Gefühl, einem geduldigen Handwerker bei der Arbeit zuzuschauen als einem Leistungssport-ler wie einem Tennis-oder Fußballspieler, bei dem der Körper auch die Regie übernimmt.
Er hat wohl kein allzu großes Repertoire, sagte sie
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