Das muss Liebe sein
unkontrollierter Schlafdrang war inzwischen so schlimm, dass er nur noch im Pyjama umherlief. Jeden Morgen zog er einen frischen an, bevor er den Flur entlang zu seinem Büro ging. Sein einziges Zugeständnis an den Tag waren die Hausschuhe an seinen Füßen.
Solange Gabrielle denken konnte, hatte ihr Großvater bis zur Mittagszeit in seinem Büro gearbeitet und dann noch einmal spät am Abend. Was genau er dort tat, hatte sie bis vor kurzem nie so recht gewusst. Als Kind hatte man sie in dem Glauben gelassen, er sei ein Risikokapitalist. Doch seit sie zu Hause war, hatte sie Anrufe entgegengenommen von Männern, die fünf Dollar auf solche Favoriten wie Eddie »Der Hai« Sharkey oder Greasy Dan Muldoon setzen wollten. Jetzt hatte sie ihren Großvater im Verdacht, Buchmacher zu sein.
Gabrielle hockte sich auf ihre Fersen und drückte leicht die knochige Hand des alten Mannes. Während des größten Teils ihres Lebens war er ihre Vaterfigur gewesen. Er trat barsch und streitsüchtig auf, und er machte sich nichts aus anderen Menschen, Kindern und Haustieren. Doch wenn jemand zu ihm gehörte, war er bereit, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, damit der Betreffende glücklich war.
Gabrielle stand auf und ging aus dem Zimmer, in dem es stets nach Büchern, Leder und Jahrzehnten von Pfeifentabak roch – tröstliche und vertraute Düfte, die ihre geistig-körperlich-seelische Heilung förderten seit dem Abend vor einem Monat, als ihre Mutter und Tante Yolanda sie auf der hinteren Terrasse ihres Hauses aufgelesen und sie gestrichene vier Stunden nach Norden bis zum Haus ihres Großvaters gefahren hatten. Diese Nacht schien jetzt so weit zurückzuliegen, und doch erinnerte sie sich an jede Einzelheit, als wäre alles erst gestern geschehen. Sie erinnerte sich an die Farbe von Joes T-Shirt und an sein ausdrucksloses Gesicht. Sie erinnerte sich an den Rosenduft in ihrem Garten und an den kühlen Luftzug, der ihre nassen Wangen streifte, als sie im Toyota ihrer Mutter auf dem Beifahrersitz saß. Sie erinnerte sich an Beezers weiches Fell unter ihren Fingern, an das unablässige Schnurren der Katze, an die Stimme ihrer Mutter, die sagte, ihr Herz würde wieder heilen, und mit der Zeit würde ihr Leben wieder in Ordnung kommen.
Sie ging den langen Flur zu dem Salon entlang, den sie sich als Atelier eingerichtet hatte. Schachteln und Kisten voller ätherischer Öle und Aromatherapien stapelten sich an den Wänden und versperrten der septemberlichen Morgensonne den Weg. Seit dem Tag, an dem sie mit wenig mehr als einer Tasche voller Kleidung und ihren Ölen angekommen war, war sie ununterbrochen beschäftigt. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, sich abgelenkt, sodass sie hin und wieder vergessen konnte, dass sie an einem gebrochenen Herzen litt.
Seit sie zu ihrem Großvater gekommen war, hatte sie nur einmal den Weg nach Boise auf sich genommen, um die Papiere zu unterzeichnen, in denen sie ihren Laden zum Kauf anbot. Sie hatte Francis besucht und sich vergewissert, dass ihr Rasen gemäht wurde. Sie hatte die Zeitschaltuhr für den Rasensprenger auf vier Uhr morgens eingestellt, damit sie nicht fürchten musste, dass ihr Rasen vertrocknete. Während ihres Aufenthalts in der Stadt hatte sie ihre Post abgeholt, den Staub von ihren Möbeln gewischt und die Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter abgehört.
Von dem einen Menschen, auf dessen Nachricht sie so sehr hoffte, war kein einziges Wort gespeichert. Einmal glaubte sie, das Kreischen eines Papageis auf dem Anrufbeantworter gehört zu haben, doch dann ertönte vom Band das ferne Klingeln eines Telefons, und sie tat ihre Vermutung als dummen Streich oder Werbung irgendeines Telefondienstes ab.
Seit dem Abend, als Joe auf ihrer Veranda gestanden und ihr erklärt hatte, dass sie Sex mit Liebe verwechselte, hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Seit dem Abend, als sie ihm ihre Liebe gestanden hatte und er vor ihr zurückgeschreckt war, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Der Schmerz in ihrem Herzen war ständig präsent; er war bei ihr, wenn sie morgens aufwachte, und abends, wenn sie zu Bett ging. Selbst im Schlaf konnte sie ihn nicht aus ihrer Erinnerung verbannen. Auch in ihren Träumen kam er immer zu ihr. Doch jetzt fühlte sie sich hohl und einsam beim Aufwachen und verspürte nicht mehr den Drang, ihn zu malen. Sie hatte nicht mehr zum Pinsel gegriffen, seit er damals in ihr Haus gestürmt war und nach Mr. Hillards Monet gesucht hatte.
Gabrielle betrat
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