Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
etwas beruhigt hatte, schalt sie sich eine dumme Gans.
Nüchtern betrachtet war gar nichts passiert. Der Verwalter war ihr vielleicht
ein wenig zu nahe getreten, aber er hatte ihr nichts getan. Sie selbst hatte
sich hineingesteigert in ihre Angst und hatte überreagiert. Jetzt schämte sie
sich für ihre Reaktion.
Aber was geschehen war, konnte sie nicht rückgängig machen.
Dem Verwalterehepaar konnte sie sich nicht mehr unter die Augen trauen. Nicht
eine einzige Stunde wollte sie noch auf dem Gut verbringen.
Unter ihrem Strohsack holte sie ihre Tasche hervor, in der
sich alles befand, was sie besaß, zum Glück auch noch einige Münzen aus Gretes
Kate, die sie als eiserne Reserve aufgehoben hatte.
Um kein Aufsehen zu erregen, verabschiedete sie sich von
Niemandem und schlich über den Hof wie ein Dieb. Sie atmete auf, als sie
unbehelligt die rückwärtige Pforte erreichte, die zu den Feldern führte.
Im Mondlicht überquerte sie das Feld und erreichte den
angrenzenden Wald. Bald fand sie den alten Handelsweg, der wie sie wusste in
Richtung Osten nach Aschaffenburg und weiter nach Frankfurt führte. Sie wollte
dem Weg ein Stück folgen und dann in Richtung Wetzlar abbiegen. Jetzt im Winter
war das ein langer und beschwerlicher Weg, aber irgendwie würde sie es schon
schaffen.
Schon ein Stück von Haibach entfernt hörte Line von vorn
Hufgetrappel und verschwand so schnell wie möglich hinter ein paar Büschen am
Waldrand. Kaum hatte sie sich hinter einen Strauch in den Schnee geduckt, als
mehrere Reiter um die Wegbiegung bogen und an ihr vorbeigaloppierten, als wäre
der Teufel hinter ihnen her.
Line schmiegte sich so dicht wie möglich an den Boden und
wagte nicht, aufzublicken. Als sie wieder hervor kroch und den Reitern
nachschaute, sah sie nur eine aufgewirbelte Staubwolke. Im nächsten Moment waren
sie ihren Blicken entschwunden.
Sie ahnte nicht, wie gut sie die Reiter kannte und dass sie
ihretwegen in so großer Eile waren.
*
Je näher sie dem Ort kamen, desto mehr stieg Conrads
Anspannung. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn und er drängte immer wieder zur
Eile.
Das letzte Stück ritten sie so schnell es das Gelände
erlaubte. Als der Weg sich verbreiterte, konnten sie zwischen den Bäumen
bereits die Spitze der Holzkirche von Haibach erkennen und fielen in Galopp.
Conrad glaubte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung hinter einem der Büsche
wahrzunehmen, die den Weg säumten. Aber er achtete nicht weiter darauf, denn im
nächsten Moment war er vorbeigeprescht. Ihm war es völlig egal, ob sich dort
irgendwelches Gesindel oder Bauern herumtrieben, die das Hufgetrappel gehört
und sich ängstlich versteckt hatten.
Endlich kam Haibach in Sicht.Constantin ritt vor den anderen auf den Hof und fragte einen Knecht nach
dem Verwalter.
Conrad, Sven und Antonia sahen sich nach allen Seiten um, konnten
Line aber nirgendwo entdecken.
Als der Verwalter endlich auftauchte, schien er ziemlich
verstört. Es kam nicht oft vor, dass der Sohn seines Herrn den Hof besuchte,
aber noch nie war er mit zwei fremden Rittern aufgetaucht. Außerdem brachte er
ein Mädchen mit. Sollte er etwa schon wieder eine neue Magd aufnehmen?
Er nahm seinen Hut in die Hand und dienerte vor Constantin.
Dieser verlor keine Zeit. „Gestern habe ich dir eine neue Magd geschickt. Wo
ist sie?“
„Die Line?“, der Verwalter witterte Ärger. Warum fragte der
Sohn des Herrn ausgerechnet nach diesem nichtsnutzigen Mädchen? „Sie, äh…“, er
schluckte, „…ist nicht mehr hier…“
„Was soll das heißen, nicht mehr hier?“, Constantin war laut
geworden und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, als er den Verwalter
wütend anfuhr: „Ich hatte dir aufgetragen, dem Mädchen Arbeit zu geben!“
„Ha-hab ich doch, Herr“, stotterte der eingeschüchterte
Kerl. „Aber sie ist einfach weggelaufen.“
„Wann?“, wollte Conrad wissen. Er konnte sich nicht mehr
zurückhalten.
„Ist gar nicht lange her“, rief eine schrille Stimme von der
Seite, die der Frau des Verwalters gehörte. „Das Weibsbild wollte sich an
meinen Mann heranmachen“, keifte sie, „Aber ich bin dazugekommen…“
„Was?“, Conrad traute seinen Ohren nicht. Er sprang vom
Pferd und packte den Verwalter am Kragen. „Was ist passiert, Geiergesicht?“,
brüllte er ihn an. „Und lüg mich nicht an!“
Der Verwalter war blass geworden. Mühsam krächzte er: „Aber
Herr, das ist doch nur eine Magd. Ich,
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