Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
äh, wollte doch nur ein bisschen…“
Weiter kam er nicht. Ein unschönes Geräusch beendete abrupt
sein Gestammel, als Conrads Faust ihm den Kiefer brach und er zu Boden stürzte
wie ein gefällter Baum.
Seine Frau kreischte auf und schlug die Hände vor den Mund.
Dann fiel sie auf die Knie und versuchte, ihren Mann aus seiner
Bewusstlosigkeit zu erwecken.
„Er bewegt sich nicht!“, kreischte sie mit schriller Stimme.
„Das ist auch besser für ihn“, knurrte Sven.
„Ruf alle Bediensteten zusammen“, befahl Constantin der
Großmagd, die hinzugetreten war und ungläubig auf die Szene starrte. Das war
gar nicht nötig, denn der Hof hatte sich bereits mit Mägden und Knechten
gefüllt, die von dem Lärm aufgescheucht worden waren und halblaut durcheinander
tuschelten.
Einige Mägde grinsten schadenfroh beim Anblick ihres am
Boden liegenden Verwalters. Es wunderte Conrad nicht, dass der Kerl nicht
besonders beliebt zu sein schien.
Der Kaufmannssohn erhob die Stimme und sofort trat Ruhe ein.
Er fragte das Gesinde, ob jemand gesehen hätte, in welche Richtung Line
gegangen sei oder ob jemand wisse, wo sie hin wollte.
„Sie hat nur ihre Tasche geholt und ist verschwunden“, sagte
Gerda. „Ich dachte, sie hätte einen Auftrag vom Verwalter bekommen.“
Alle anderen schüttelten die Köpfe und zuckten mit den
Schultern.
Conrad ballte die Fäuste. Sie waren so nahe dran gewesen. Wenn
der Verwalter nicht bereits reglos am Boden läge, hätte er ihn sicher noch
einmal geschlagen.
Wieder einmal wurde ihm bewusst, wie verletzlich ein Mädchen
ist, wenn sie allein auf sich gestellt war. Das galt ganz besonders, wenn sie
so jung und hübsch war wie Line. Beim Gedanken daran, dass Line jetzt ganz
allein durch die Nacht irrte, krampfte sich ihm das Herz zusammen.
Unwillkürlich sah er zu Antonia. Jetzt verstand er noch
besser, warum sie sich damals als Junge ausgegeben hatte, als sie sich allein
durchschlagen musste.
Er betrachtete das Mädchen von der Seite. Obwohl sie nur
wenig jünger war als Line, waren ihre weiblichen Formen jedoch noch kaum
ausgeprägt. Ihre Hüften waren schmal und den Busen konnte man nur erahnen. Mit
ihrem schlaksigen Gang und den noch immer zu kurzen Haaren sah sie auch jetzt
noch eher wie ein Junge aus.
Der junge Kaufmannssohn war fassungslos. „Ich glaubte, das
Mädchen wäre hier sicher und hätte ein Auskommen. Wenn ich geahnt hätte…“
„Du s-heinst euren Verwalter ja wenig zu kennen“, bemerkte
Sven.
„Mein Vater hält große Stücke auf ihn, seitdem er ihn
eingestellt hat, wirft der Hof Gewinn…“
„Line kann noch nicht weit gekommen sein“, bemerkte Conrad
und schnitt ihm damit das Wort ab. „Wir sollten uns trennen, dann haben wir
größere Chancen, sie zu finden.“
„An ihrer S-telle würde ich in eine größere S-tadt gehen,
denn dort besteht am ehesten die Möglichkeit, Arbeit zu finden“, meinte Sven.
„Frankfurt und Mainz s-heiden aus, denn dann wäre sie in Richtung As-haffenburg
gegangen und wir wären ihr auf dem Herweg begegnet. Bleiben Würzburg im Osten
oder Fulda im Norden.“
„Würzburg ist allerdings näher“, warf Constantin ein.
„Ich reite nach Osten, du und Antonia nach Norden“,
entschied Conrad. „Bis zum Abend haben wir sie entweder gefunden oder wir waren
auf der falschen Fährte. Wir treffen uns spätestens morgen wieder hier.“
„Wir sollten uns in Aschaffenburg treffen, in unserem Haus“,
schlug Constantin vor. „Falls sie doch zurückgegangen ist, werde ich dort mit
ihr auf Euch warten.“
Es war ihm anzusehen, dass er etwas gutmachen und unbedingt
helfen wollte.
Also stimmten sie zu und ritten in verschiedene Richtungen
davon.
Der Verwalter, der sich gerade wieder aufrappelte, schaute
ihnen erleichtert nach. Dann fasste er sich an den Kiefer und schrie vor
Schmerz auf. Die nächsten Wochen würde er nur von Brei leben müssen. Und das
alles wegen dieser kleinen Schlampe. Die Welt war ungerecht.
V
Der Wildhüter
Neblungmond Anno 1229
Mehrere Tage irrte Line ziellos umher. Ursprünglich wollte sie
nach Hanau gehen, denn die Stadt war nicht allzu weit entfernt. Aber in den
tief verschneiten Wäldern hatte sie sich hoffnungslos verlaufen und wusste
nicht mehr, wo sie war. So ging sie einfach immer weiter und hoffte,
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