Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
alle einen schweren Kopf und
Line linderte die Beschwerden mit einem speziellen Gebräu. Es kam den
Venusdienerinnen sehr gelegen, dass sie an Feiertagen nicht arbeiten durften
und das Badehaus geschlossen blieb. Trotzdem bestand Godefroy darauf, dass sie
alle zusammen zum Weihnachtsgottesdienst gingen.
Da Line sich bisher nicht auf die Straße getraut hatte, war
sie lange nicht in der Kirche gewesen. Doch dieses Mal ließ sie sich überreden.
Wegen des kalten Wetters fiel es nicht auf, wenn sie sich in
einen weiten Gugelmantel hüllte und die Kapuze tief ins Gesicht zog. Ihre
langen Haare steckte sie hoch und verstaute sie unter einer Bundhaube, so dass
keine Strähne hervorlugte. So würde sie niemand erkennen, selbst dann nicht,
wenn sie in der Kirche die Kapuze abnahm. Trotzdem fühlte sie sich unwohl. Es
kam ihr vor, als starrten die Menschen sie von allen Seiten an, obwohl sie den
Blick gesenkt hielt und ihr Gesicht hinter den gefalteten Händen verbarg.
Martha entging nicht, dass Line sich zu verstecken
versuchte. Sie vermutete, das Mädchen würde sich schämen, zusammen mit den
Dirnen des Badehauses gesehen zu werden, welche an ihren auffälligen gelben
Bändern unschwer zu erkennen waren.
Godefroy hatte den Bediensteten nicht erzählt, unter welchen
Umständen er Line kennen gelernt hatte und dass sie von der Gerichtsbarkeit der
Stadt gesucht wurde.
Nur Bella, die ihr inzwischen eine gute Freundin geworden
war, hatte Line sich anvertraut. Bei ihr war ihr Geheimnis gut aufgehoben.
Die Mädchen des Badehauses waren unter den letzten, die aus
der Kirche strömten. Line hielt sich in ihrer Mitte, die Kapuze wieder tief ins
Gesicht gezogen.
Gerade, als sie den Marktplatz überqueren wollten, rumpelten
einige grellbunte Wagen heran.
„Gaukler!“, rief Bella freudig aus. „Seht doch, Gaukler!“
Die anderen Mädchen teilten ihre Begeisterung. Line blieb
nichts anderes übrig, als zusammen mit den anderen stehen zu bleiben, während
die Gaukler bereits damit begannen, eine kleine hölzerne Bühne aufzubauen.
Dabei fiel ihr ein Junge mit rötlich blondem Haar auf, das
wie Stroh nach allen Seiten abstand. Der Junge erinnerte sie auf frappierende
Weise an Antonia.
Plötzlich fiel ihr ein, dass Antonia von ihrem kleinen
Bruder erzählt hatte. Tatsächlich sah der Junge, der beim Aufbau der
provisorischen Bühne half, wie die jüngere Ausgabe Antonias aus. Er musste ihr
verlorener Bruder sein.
Krampfhaft versuchte sie sich an den Namen zu erinnern.
Gerald? Gernot? Nein, es hatte italienisch geklungen wie der Name seiner
Schwester. Noch während sie überlegte, rief eine junge Frau den Jungen an:
„Geronimo, hilf mir mal!“
Sofort rannte der Angesprochene zu ihr.
Geronimo. Ja, das war sein Name. Line war sich jetzt ganz
sicher. Sie musste ihm unbedingt sagen, dass seine Schwester lebte und wo sie
war. Das war sie ihrer ehemaligen Freundin schuldig.
So unauffällig wie möglich versuchte sie, sich den bunten
Wagen zu nähern. Zunächst achtete Niemand auf sie, aber dann folgte ihr Bella
neugierig.
Gerade hatte Line einen der Wagen erreicht, als der blonde
Junge in Richtung Holzbühne an ihr vorbeiflitzte.
„Geronimo?“, rief sie ihn an. Wie angewurzelt blieb der
Junge stehen und sah sie erstaunt an. „Woher kennt Ihr meinen Namen?“, fragte
er skeptisch.
„Hast du eine Schwester, die Antonia heißt?“
Der strohblonde Bengel starrte sie an. Er brachte kein Wort
heraus und nickte nur mechanisch.
„Deine Schwester lebt.“
„Woher wisst Ihr das?“, fragte Geronimo ungläubig.
„Ich war mit ihr zusammen – bis vor ein paar Wochen“,
erwiderte Line und lächelte den Jungen an.
„Wo ist sie?“, wollte dieser wissen.
„Auf Burg Breuberg. Sie steht in den Diensten eines
Ritters.“
Die Augen des Jungen leuchteten. „Wo ist dieses Breuberg?“
Line wollte noch etwas sagen, als plötzlich eine bekannte,
unangenehme Stimme kreischte: „Da ist das Weib! Mörderin! Haltet sie!“
Niemand anderes als die Witwe des Tuchhändlers stand nur ein
paar Meter von Line entfernt und wies mit dem Finger auf sie. Die Matrone
rannte auf sie zu und versuchte, sie am Mantel zu packen. Aber Bella trat
geschickt dazwischen und hielt die keifende Frau auf.
„Was ist geschehen, Gevatterin?“, fragte sie scheinbar
hilfsbereit.
Inzwischen waren zwei Büttel aufmerksam geworden, die am
Rande des Marktes standen und das Treiben der Gaukler beobachtet hatten.
Line lief los.
Sie hatte keine Ahnung, wohin
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