Das mysteriöse Pergament 03 - Heimkehr (German Edition)
Wispern.
Gespannt sah der junge Ritter sie an.
Anna atmete ein paar Mal tief ein, bevor sie fortfuhr:
„Sicher erinnert Ihr Euch nicht, aber Ihr habt mich einmal geküsst.“
Conrad hob die Augenbrauen. „Ich, äh – ja, ich erinnere
mich. Wir waren Kinder. Aber was…“
„Ich habe es niemals vergessen, es war ein süßer Kuss…“
„Wir hatten Honig genascht.“
„Ja“, Anna lächelte verträumt, „Ihr hattet ihn für Eure
Schwester und mich aus der Küche stibitzt.“
Mit gerunzelter Stirn sah Conrad die Zofe an. Die Geschichte
war so lange her, wie kam sie jetzt darauf? Fantasierte sie womöglich?
Dabei war es gar kein richtiger Kuss gewesen, eher ein von
Anna provozierter Zusammenprall ihrer Lippen. Er war damals höchstens zehn oder
elf gewesen, sie etwas älter. Wenn er sich recht erinnerte, war es zu
Weihnachten gewesen, als er zu Besuch zu Hause war, denn das war während seiner
Knappenausbildung in Breuberg gewesen.
Unwillkürlich fielen ihm jetzt noch weitere mehr oder
weniger unbefriedigende oder sogar peinliche Abenteuer mit den Mägden des Gutes
seines Vaters und auf der Burg Breuberg ein, die er während seiner Pubertät
bestanden hatte.
Damals hatte er ernüchtert festgestellt, dass Küsse gar
nicht immer süß schmeckten, wie er es sich immer ausgemalt hatte. Sie waren
einfach nur feucht und warm. Allerdings gab es da in Abhängigkeit der Reize der
betreffenden Partnerin große Unterschiede.
„Ich war damals total in Euch vernarrt“, sagte Anna
plötzlich und riss Conrad damit aus seinen Gedanken.
„Kindliche Schwärmerei“, sagte er lächelnd.
„Ja“, bestätigte sie. „Damals war es so.“
Dann sah sie ihm in die Augen und zum ersten Mal fiel Conrad
auf, dass sie schöne, hellbraune Augen hatte.
„Ich hätte es niemals gewagt, es zu sagen...“ Ihre Stimme
war so leise, dass Conrad sich über sie beugen musste, um sie zu verstehen.
„…ich liebe Euch, Ritter Conrad, ich habe Euch immer geliebt, ich kann nichts
dagegen tun.“
„Was?“, Conrad konnte es nicht fassen. Nicht im Entferntesten
wäre ihm in den Sinn gekommen, was Anna ihm gerade eröffnete.
Plötzlich sah er sie mit anderen Augen, nicht als Zofe,
sondern als Frau. Ihr rundes Gesicht wurde umrahmt von braunen Locken. Er
konnte sich nicht erinnern, jemals diese Locken gesehen zu haben, die Anna
üblicherweise unter einer strengen Haube verbarg. Noch nie hatte er Anna
besondere Beachtung geschenkt. Sie war einfach immer da gewesen, sie gehörte
einfach zu seiner Schwester wie ihr eigener Schatten.
„Würdet Ihr…“, Anna atmete schwer, „würdet Ihr mir bitte…“,
sie sah ihn flehentlich an, „…einen Kuss geben?“
Conrad wurde flau im Magen. Aber er konnte ihr diesen
letzten Willen nicht abschlagen. Also beugte er sich über sie und küsste ganz
vorsichtig ihre Stirn, danach ihre rechte Wange. Als er auch ihre linke Wange
küssen wollte, drehte sie leicht den Kopf, so dass er ihren Mund traf. Es war
nur eine kurze Berührung, aber ihre Augen leuchteten.
„Danke, Ritter Conrad“, hauchte Anna, schloss die Augen und
lächelte. Es waren ihre letzten Worte.
Conrad betrachtete lange die leblose Gestalt des Mädchens,
das er schon so lange kannte und doch so wenig gekannt hatte. Er schämte sich
nicht für die Tränen, die ihm über die Wangen liefen. Anna sah aus, als
schliefe sie und hätte einen schönen Traum. Ihr Gesichtsausdruck war entspannt
und ein verklärtes Lächeln lag auf ihren Lippen.
Erst als Conrad aufstand und sich umwandte sah er, dass Line
an der Tür stand.
„Sie hat mich geliebt“, sagte er hilflos und hob die
Schultern.
„Ich weiß.“
„Du wusstest es?“
„Frauen sehen so etwas – insbesondere liebende Frauen.“
„Hast du gesehen…ich meine…dass ich sie…“
Line nickte.
„Es war nicht so…“, hob Conrad an, aber Line unterbrach ihn.
„Ich weiß. Sie ist mit einem glücklichen Lächeln gestorben. Es war sehr
ritterlich von dir.“
Verwundert sah Conrad sie an. Er hatte gerade Anna geküsst
und Line war ihm nicht böse? Die Frauen soll einer verstehen, dachte er
erleichtert.
In diesem Moment trat Pfarrer Ekarius ein und sah den Ritter
fragend an.
„Sie hat bereits gebeichtet“, sagte Conrad leise, „Ihr könnt
ihr die letzte Ölung geben.“
Conrad trat zurück auf den Hof, er ging auf den alten
Nienkerkener zu, der jetzt gefesselt war und stumpf vor sich hin starrte.
„Ich sollte Euch fordern, Bernhardt von Nienkerken, aber
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