Das Mysterium Des Himmels
hob den Kopf und schloss sogleich die Augen wieder. Offenbar glaubte es nicht, was es sah. Oder es wusste sich nicht zu fassen. Aber warum war es nach seinem nächtlichen Sturz zurückgekehrt? Immerhin hatte es sich nicht unerheblich im Gesicht verletzt, wie Ekuos unschwer erkennen konnte. Plötzlich begann das Wesen zu brüllen. Es brüllte nicht gegen den Wind oder gegen einen Feind oder sonst wohin, es brüllte gegen die Erde. Es schien, als brüllte es die Mutter Erde an und sein Brüllen war das eines armen und verzweifelten Menschen. Ekuos glaubte nicht mehr an eine Gefahr und lief langsam, ohne jede Hast, fast wie ein gebrechlicher Mann, dessen Knie eine schnellere Bewegung nicht zuließen, zu dem Wesen hinüber. Ekuos stand da und stützte sich auf seinen Knüppel, während das Wesen nur einen kurzen Blick wagte und sofort wieder seine Augen gegen die Erde senkte. Dann brüllte es erneut. Diesmal verstand Ekuos die Worte. Er hörte sie und es war seine Sprache, in der das Wesen brüllte.
»Töte mich!«
Ekuos war überrascht über die unbeherrschte Wut, mit der das Wesen diese Worte ausstieß. Wieso glaubte es, dass Ekuos die Kraft und den Willen dazu hatte? Die Haltung des Mannes gab ihm die Antwort. Ekuos vergaß noch zu häufig, dass er ein Hirte und Seher war, den die anderen für ein von den Göttern beschützten Menschen hielten. Einer, der von den Göttern bevorzugt wurde. Der Mann meinte das genaue Gegenteil von dem, was er schrie. Ekuos war mit den Attributen seiner Kaste ausgestattet. Sein wallendes Haar und sein langes Gewand mit der Kapuze zeigten dies. Er hielt einen Knüppel in der Hand, womit jeder Angriff bösartiger Wesen aus der finsteren Nacht abgewehrt werden konnte. Hinzu kam Kida. Die Menschen in seinem Volk glaubten, dass er von göttlicher Unsterblichkeit war, auch weil an seiner Seite eine Wölfin stand. Der Mann war sich dessen wohl auch bewusst und behandelte ihn mit entsprechender Ehrfurcht. Oder er hatte einfach Angst, fürchtete sich vor der schrecklichen Rache der Götter, wenn er einem Hirten und Seher etwas antun wollte.
»Sage mir deinen Namen«, sprach Ekuos leise, als wollte er die Natur nicht stören.
Der Mann schlug sich mit beiden Händen gegen den Kopf und schaute Ekuos aus unglücklichen Augen verzweifelt an. »Töte mich«, hechelte er und legte sich wieder flach auf den Boden.
Ekuos wollte sich durch das Gehabe des Mannes nicht täuschen lassen. Noch immer hielt der die Axt fest in der Hand und er könnte, kräftig wie er war, jederzeit überraschend aufspringen und zum Angriff übergehen.
»Wie rufen dich deine Leute?«, fragte er noch einmal.
Der Fremde sprach, aber er sprach direkt gegen den Boden, so als wollte er nur der Mutter Erde seinen Namen offenbaren.
»Sprich zu mir«, sagte Ekuos. »Hebe deinen Kopf und sprich nicht hinter vorgehaltener Hand. Sprich mit offenem Mund und sage die Wahrheit, sonst werden böse Geister in deinen offenen Mund fliegen und dich von innen vernichten. Ich bin Ekuos der Hirte.«
Der Fremde begann zu zetern und sein Körper wurde wie von einem schweren Fieber geschüttelt.
»Palmira«, hörte Ekuos ihn rufen, immer wieder: »Palmira! Palmira!Palmira!« Er schrie nach ihr und es klang nach wahrhaftiger Verzweiflung.
»Steh auf«, sagte Ekuos, »und zeige dich.«
Der Mann legte die Axt vor sich hin und erhob sich, um gleich wieder auf die Knie zu sinken. Mit der Faust schlug er gegen seine Brust. »Atto. Atto hat Palmira nicht beschützt vor diesen …« Er konnte nicht weitersprechen, Tränen liefen ihm über das verkrustete Gesicht.
Ekuos trat zurück und lehnte sich an einen Baum. Er musste nachdenken und überlegen, wie er sich verhalten sollte. Jetzt sah er die Blutkruste an der Stirn von Atto. Amanda stand an der Quelle und hielt das von ihr benutzte Schwert noch in den Händen. Ekuos wollte zu Palmira nichts sagen. Vielleicht war sie eine andere mit gleichem Namen?
»Öffne deine Gedanken und sprich«, sagte Ekuos.
Der Mann gehorchte und sah nur einmal kurz zu Ekuos hinüber. Atto drehte den Kopf und schaute in die Baumkronen. »Ein Hirte, ein Seher, ein Zauberer gehüllt in die Felle einer Wölfin. Das war nicht recht geheuer. Konnte es sein, dass ich gar nicht mehr lebte und längst hinübergereist war in die andere Welt? Ich hatte davon reden hören, dass es Menschen gab, die von Wölfinnen aufgezogen wurden und wie die Wölfe lebten. Wenn der Hirte dort von einer Wölfin gesäugt worden war, würde sie nicht
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