Das Mysterium: Roman
Gros Tournois oder die des versteckten
halben Dokuments seines Vaters?
Stimmen vor der Tür. Jetzt kam es darauf an. Er steckte die Münze zurück, ordnete seine Kleider und kniete sich nieder. Er
hob die Hände empor, wie er es bei Amiel gesehen hatte damals im Gasthaus zum Hirschen, und atmete ruhig. In diesem Augenblick
wurde er der Abgesandte eines französischen Perfectus. Daß hinter ihm Männer den Raum betraten, störte ihn nicht. Er betete:
Gott, danke, daß du meine Gebete erhörst, nicht aber die der sündigen anderen. Das Gefühl von Macht durchströmte ihn. Er war
überlegen. Er folgte dem Licht, er allein. Empfand so Amiel?
»Er betet«, flüsterte jemand hinter ihm.
»Das sehe ich.« Es war Amiels Stimme.
Es blieb still. Sie wagten es nicht, ihn zu unterbrechen. Wenn er entlarvt wäre, hätten sie sich nicht gescheut. Es war also
noch nichts verloren.
Nach einer Weile ließ er die Arme sinken, erhob sich und drehte sich um. »Ihr wünscht?« Erstaunlich, daß Amiel nicht allein
gekommen war. Zwei der Jünger standen in ihren schwarzen Kutten hinter ihm wie Leibwächter. Fürchtete er ihn? Dann tat der
Langdolch in der silberverzierten Scheide seinen Dienst, und Nemo hatte ihn nicht umsonst gekauft. Ein Adliger war im Umgang
mit Waffen geübt, Amiel mußte damit rechnen, daß er bei einem Streit den kürzeren zog.
|293| Der Perfectus musterte ihn kühl mit seinen grünen Augen. »Ihr versteht, daß ich kein Französisch mit Euch spreche. Es wäre
unhöflich vor den anderen.«
»Natürlich.«
»Aber vielleicht seid Ihr auch froh darüber? Euer Deutsch ist erstaunlich gut.«
»Ich stamme von hier, aus Augsburg.« Amiel sprach nicht deshalb deutsch mit ihm, weil es unhöflich wäre, französisch zu reden.
Nein. Er wollte sichergehen, daß es die anderen mitbekamen, wenn Nemo ihm drohte, wenn sich das Gespräch aus irgendeinem Grund
zuspitzte.
»Judas nennt Ihr Euch, wie der Verräter.«
»Christus hat Judas unter seine Jünger aufgenommen. Er gab ihm Gelegenheit, sich zu bewähren.«
»Wie werdet Ihr Euch bewähren?«
Wenn diese Lüge nicht gelang, brach alles zusammen. Schweiß kitzelte ihn unter den Achseln. Es kostete ihn große Anstrengung,
eine ruhige Miene zu bewahren, als sage er das Gewöhnlichste von der Welt. »Das habe ich bereits, Amiel. Ich habe Euch die
zweite Hälfte des
Depositums
beschafft.«
Der Perfectus blinzelte. »Wie … Wie ist es Euch gelungen, es ihm abzunehmen?« Er starrte Nemo an wie einen Geist.
Wen könnte er meinen? Wer besaß die zweite Hälfte? »Wem?« fragte Nemo.
»Dem Dominikaner.«
Eine Lüge aus dem Stegreif mußte her. Eine gute. Offenbar war es schwer, diesen Dominikaner zu bestehlen. »Ich habe es nicht
selbst getan.«
»So?«
»Ich habe einen Dieb beauftragt. Den erfahrensten Beutelschneider des Landes. Er ist dem Dominikaner nachgestiegen und hat
ihm das Pergament entwendet.«
»Gebt es mir.«
»Ihr wißt selbst, welche Bedeutung das
Depositum
hat. Ich muß zuerst sichergehen, daß es in die richtigen Hände gerät.«
»Das wollt Ihr beurteilen, ein einfacher Abgesandter?«
|294| »Mein Herr hat mich durch genaue Unterweisungen vorbereitet. Gebt mir einige Tage, ich möchte Eure Arbeit kennenlernen.«
Der Perfectus strich sich über den schwarzen Bart. »Ich weiß nicht, ob ich Euch trauen kann. Welche Seite des Pergaments besitzt
Ihr?«
Nemo rief sich das halbe Pergament vor Augen, das im Hammerschaft gesteckt hatte. Es war die rechte Seite gewesen. »Die linke.«
»Wenn Ihr tatsächlich von einem Perfectus geschickt wurdet, solltet Ihr wissen, wie man sich einem Perfectus gegenüber verhält.«
»Ich weiß es wohl. Verzeiht. Euch gebührt das
melioramentum
.« Nemo kniete nieder. Er neigte dreimal den Kopf zu den Händen Amiels und küßte sie. Sie waren kalt. Er sagte:
»Be
nedicite
, parcite nobis.«
»Von Gott und von uns«, erwiderte Amiel zögerlich.
Das Land war weiß. Karrenspuren zogen sich die Straße entlang, krumm und unansehnlich. Der Schönheit des Winters konnte der
Mensch mit seinen Fährten nichts abtrotzen. Krähen krächzten in den Baumwipfeln. Aus dem Geäst rieselte Schneestaub herab
und glitzerte wie Diamantennebel.
»Ihr friert wirklich nicht?« fragte William. Seine Schritte knirschten im Schnee. Der Tasselmantel der Gräfin schleifte über
die Schneedecke.
»Eure Fürsorge ehrt Euch, verehrter William, aber mir ist wohl, wirklich. Bitte, redet weiter von dem
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