Das Mysterium: Roman
ausgeschlossen.«
»Und wenn meinem Kleinen etwas zustößt?«
»Hab keine Furcht. Bei einem Inquisitionsprozeß werden die Namen der Zeugen nicht bekanntgegeben. Er wird nie erfahren, daß
du hier warst.«
Sie flüsterte: »Er weiß es. Er kann es spüren.«
Sie schien wirklich Angst zu haben. Vizenz kniff die Augen |110| zusammen. Es klang nicht wie einer dieser Verleumdungsfälle, wo ein Streithahn den anderen anzuschwärzen versuchte. Die Frau
sagte die Wahrheit. »Wo hast du ihn getroffen?«
»Auf der Straße, beim ›Raben‹ in der Leimgasse.«
»Hast du dem Häretiker etwas gegeben?«
»Nein, Pater.«
»Hast du ihn besucht?«
»Bitte, Ihr müßt mir glauben! Zu Hause wartet mein Mann, er hat gesagt, ich soll zu Euch gehen. Ich will mein Kind nicht verlieren,
und ich will nicht in den Kerker! Ich habe den Ketzer nur dieses eine Mal gesehen. Ich habe ihm nichts gegeben und ihn nichts
gefragt und habe gleich, nachdem er weitergegangen war, drei Kreuze geschlagen und ein Paternoster gebetet. Bitte, glaubt
mir!«
»Ich glaube es«, sagte er. Da war jemand in seiner Stadt und forderte ihn heraus. Nun, er würde der Sache auf den Grund gehen
und das Unkraut mit Stumpf und Stiel ausreißen. Nicht umsonst vertraute ihm der Bischof, nicht umsonst setzte auch der Papst
in Rom sein Vertrauen in ihn. Er würde seine Männer ausschwärmen lassen und auch selbst einige Quellen anzapfen. Wenn er den
Häretiker gefunden hatte, der es wagte, München anzugreifen, würde er ihm eine Falle stellen. »Woran hast du erkannt, daß
es sich um einen Ketzer handelt? Was hat er getan?«
»Er hat gesagt, er wird dafür beten, daß der Dämon aus meinem Bauch verschwindet. Ein Seelengefängnis ist das, was da in mir
entsteht, hat er gesagt. Er wollte mir die Sünden vergeben, wie ein Priester.«
Vizenz’ Blick ruckte zu dem Stapel mit Briefen hin. Er faßte sich an den Hals. »Was hast du gerade gesagt?«
»Er hat behauptet, in meinem Bauch ist ein Dämon. Seelengefängnis, so hat er mein Kind genannt.«
Die Briefe der französischen Amtsbrüder sagten die Wahrheit. Ein Schauer lief ihm über die Schultern. »Danke. Du kannst gehen.«
Er ist da, dachte Vizenz.
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|111| 7
In Böen blies der Wind letzte Tropfen vor sich her. Nemo hatte in einer Toreinfahrt gewartet, bis der Schauer zu Ende war.
Jetzt ging er in der Mitte der Straße, um nicht naß zu werden. Rechts und links troff von den Dachkanten das Wasser. Leere
Verkaufstische glänzten, das regennasse Holz fing das Licht ein, es spiegelte den bewölkten Himmel.
Bei jedem Atemzug stach ihn der Rücken. Hatte der Fleischhacker eine Rippe zerknackt? Er wagte es nicht nachzutasten. Drohen
und Locken. Wie oft hatte er es mit ahnungslosen Kaufleuten oder Adligen oder Wirtshausbesuchern gespielt. Es hieß: Wenn du
das Geschäft nicht mit mir machen willst, dann gehe ich zu einem anderen! Amiel von Ax spielte Drohen und Locken mit ihm.
Er gab ihm Gold, versprach ihm eine Fährte zu seinen Eltern, hetzte zugleich aber den Fleischhacker auf ihn. Er band ihn an
sich, um ihn sich zu Willen zu machen.
Worum ging es in diesem Machtkampf? Ging es darum, wer der bessere Betrüger war? Nemo hatte bisher so gut wie nichts über
Amiel erfahren. Amiel aber wußte viel über ihn. Nur in einem irrte er sich: Er unterschätzte ihn. Er bildete sich ein, daß
er ihn eingeschüchtert hatte, daß er Nemo nur genug drohen mußte, dann würde er einknicken. Aber er, Nemo, kannte noch ein
weiteres Spiel, eines, bei dem niemand anderes als er selbst die Regeln festsetzte.
Er ging am Graben des Kaiserhofs entlang. Heinrich Pfanzelter, Student der Rhetorik, sagte er in Gedanken, ich überbringe
einen Brief für William Ockham.
Vor ihm gingen drei junge Männer mit Instrumenten über die Brücke. Einer trug ein Trumscheit, der nächste besaß eine Schalmei,
der dritte eine Fiedel. Die kaiserlichen Wachen |112| stellten sich ihnen in den Weg, Diener des Reichsadlers, der auf ihren Waffenröcken prangte wie ein lebendiger Greif. Nemo
überquerte die kleine Brücke und stellte sich hinter den Musikern an.
Was taten die Wachen da? Sie packten die Musiker bei der rechten Hand und schoben ihre Hemdsärmel hinauf, als wollten sie
–
Der Atem setzte ihm aus. Sie wollten ihn fangen.
Venk von Pienzenau mußte sie unterrichtet haben. Es war eindeutig, daß sie seine Narbe suchten. Hatte womöglich Amiel das
veranlaßt, in Absprache mit Venk?
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