Das Mysterium: Roman
daß
er über die Mauer geklettert war? Das Hemd war verschmiert vom feuchten Moos.
Auf der anderen Seite des Torbogens blieb er stehen. Mit breiten Schwingen erhob sich der schwarze Adler, das Kaiserwappen,
auf der Häuserwand. Er hatte das Gefühl, zu weit zu gehen, zuviel aufs Spiel zu setzen.
Adeline überquerte bereits den Hof und ging auf die ihm bekannte Tür im Ostflügel zu. Da merkte sie, daß er nicht bei ihr
war. »Hier hinein«, rief sie.
Er kam ihr nach, folgte in das Gebäude. Im Korridor, unter der gewölbten Decke, brannten in Nischen immer noch Kerzen, sie
wurden offenbar regelmäßig ersetzt. Kostbare Wachskerzen, die sich kaum jemand in München leisten konnte, bis auf die großen
Kirchen. Sie gaben dem Gewölbe einen weichen, rötlichen Schein.
Adeline wartete am Fuß einer Treppe.
Er stellte sich hinter sie. Obwohl er nichts anderes tat, als zu atmen, stach es im Rücken.
Sie verharrte.
»Was ist?« fragte er.
|120| Sie deutete auf die Treppe. »Ich warte darauf, daß du hinaufgehst!«
»Vor Euch? Aber warum sollte ich das tun? Ich kenne den Weg nicht.« Im Kerzenschein glühte ihr blondes Haar. Sie standen so
nahe beieinander! Sie war wirklich klein, mindestens einen Kopf kleiner als er.
»Der Herr geht vor der Dame die Treppe hinauf.«
»Das wußte ich nicht.«
»Hast du das nicht gelernt? Es ist, damit er ihr … Du weißt schon.« Sie hob ein wenig ihr Kleid an und sah zu Boden dabei.
»Verstanden?«
Sie trug niedliche kleine Schuhe. Sie waren vom Tau genäßt. Darüber konnte er zarte Knöchel sehen. Er schluckte. »Ja, verstanden«,
sagte er und stieg die Treppe hinauf. Warum war er nur ein solcher Tolpatsch? Ein Mann sollte einer Dame nicht unter das Kleid
sehen. Deshalb gehörte es sich, daß er voranging. Diese süßen Knöchel. Sein Bauch erwärmte sich.
»Halt«, sagte sie. »Hier, die Tür.«
Natürlich. Nemo stieg wieder einige Stufen hinunter. Er stellte sich vor die Tür und klopfte.
»Ich lese«, drang Williams Stimme hindurch. »Belaßt mir meine Ruhe.« Der englische Akzent verfremdete die Wörter.
»Es ist dringend, Herr William Ockham«, sagte Nemo. »Heinrich Pfanzelter ist hier. Ich habe eine Botschaft für Euch.«
Augenblicke später öffnete sich die Tür. Williams Gesicht erschien im Spalt, die Augenbrauen lang und abstechend. »Tischt
mir diesmal keine Lügen auf!« Er machte ihm Platz und ließ ihn ein.
Nemo betrat das Zimmer, gefolgt von Adeline.
»Ihr habt eine junge Frau mitgebracht?«
Adeline errötete. »Die Gräfin wollte sichergehen, daß Euch keine Gefahr droht.«
»Ach, und Ihr hättet mich verteidigt?« fragte der Engländer. Er verzog seinen Krötenmund zu einem spöttischen Lächeln.
|121| Was William Ockham an Büchern fand! Dick in Leder und Holz eingebunden lagen sie auf Truhen, Pulten, Beistelltischen. Nemo
hatte den Verdacht, daß William mit ihnen redete, wenn niemand hier war. Waren sie nicht um ihn gruppiert, wie ein Mädchen
Puppen und Holztiere um sich stellte? Es roch nach Tinte. Williams Gemach war vollgestopft mit Schreibwerkzeugen und Schriften.
»Ich habe einen Brief für Euch«, sagte Nemo. »Er muß sofort gelesen werden, und dann sollt Ihr ihn verbrennen.«
»Wo habt Ihr ihn her?«
»Ein Mann gab ihn mir. Großgewachsen, schlank, der Bart pechschwarz, gestutzt und geölt.«
»Verbrennen soll ich ihn, ja? Gebt her.«
Nemo reichte ihm den Brief.
William faltete das Pergament auseinander. Er las. Mit jeder Zeile rückten seine Greifenbrauen tiefer. Dabei spreizten sie
sich gefährlich. Er sah auf und blickte Nemo an. Es war ein stechender, harter Blick. »Wie lange dienst du schon diesem Amiel
von Ax?«
Nemo schluckte. Er verlor Williams Wohlwollen. »Ich diene ihm nicht. Er hat mich nur gebeten, Euch den Brief zu überbringen.«
»Papst Benedikt XII. ist in Saverdun nahe Ax geboren.«
»Vielleicht kennen sie sich? Es muß eine große Ehre sein, den Heiligen Vater zu kennen.«
»Der Papst ist ein Ketzer. Das habe ich dir schon einmal erklärt.«
Nemo zögerte. »Ich verstehe nicht.« Er hatte William gegen Amiel ausspielen wollen. Statt dessen hatte er sich nun einen weiteren
Feind gemacht. Der Gelehrte war zu mächtig, er eignete sich nicht als Werkzeug. Wie hatte er sich einbilden können, es würde
ihm gelingen, William Ockham auch nur irgendeinen Gedanken unterzuschieben?
Der Gelehrte fragte kühl: »Wem habt Ihr noch Briefe überbracht?«
»Niemandem.«
|122| »Ihr
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