Das Mysterium: Roman
daß uns der Kampf gegen den Papst vereint. Nur vergißt er, daß ich Franziskaner bin. Ich trete für Gottes
Liebe ein. Er hingegen … Man muß ihn dingfest machen, ehe er großen Schaden anrichtet!«
Vizenz las.
Eine neue Kirche soll erbaut werden, aus lebendigen Steinen, aus Menschen, die ein fehlerloses, Gott wohlgefälliges Leben
führen. Die Kirche Papst Benedikts ist zerrüttet und falsch. Ihr habt das längst erkannt, William. Mit Eurer Hilfe werde ich
die Stadt und den Kaiser gewinnen, jede Begierde des Fleisches und jegliche Unreinheit abzulegen, wie ich es getan habe. In
Zukunft soll es keine Nachsicht geben mit dem Fleisch, das aus der Verderbtheit geboren ist, sondern Barmherzigkeit mit dem
Geist, der eingekerkert ist, auf daß wir ihn befreien und dem Himmelreich zuführen.
Trefft mich heute nacht im Bad des Meisters Jörg. Eure Klugheit und mein sündloser Lebenswandel werden uns befähigen, diese
Kirche zu errichten. Es ist unsere Aufgabe, und Ihr wißt es.
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Geht ihr nicht länger aus dem Weg, beugt Euch der göttlichen Vorsehung.
Vizenz räusperte sich. »Warum kommt Ihr zu mir?«
»Er ist einer von Euch.« Der Franziskanermönch beugte sich über den Tisch. »Ihr seid für ihn zuständig.«
»Was soll das heißen?«
»Wie Ihr glaubt er nicht an Gottes Liebe. Er denkt, man müsse sich durch eigene Taten retten, fehlerlos sein. Ihr denkt es
auch.«
»Das ist eine Lüge. Ich bin mir selbstverständlich dessen bewußt, daß jeder Mensch Fehler macht und Sünde auf sich lädt, und
so sieht es auch die Kirche.«
»Ja. Diese Sünden aber arbeitet der Mensch selbst wieder ab, indem er auf den Knien nach Rom rutscht, indem er Geld spendet,
indem er sich mit der Geißel züchtigt oder eine Vielzahl an Gebeten spricht. Das ist nicht der Glaube, den Jesus Christus
gelehrt hat. Christus sprach von Gnade, von Vergebung Gottes. Eure Kirche braucht Gottes Liebe nicht, sie fordert, daß der
Mensch sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht.«
Vizenz spürte am Hals sein Blut pulsieren. »Darum seid Ihr aus der Kirche ausgeschlossen worden, William Ockham. Ihr meint,
die Heilige Schrift und Gottes Willen besser zu verstehen als Tausende von Geistlichen, die über Jahrhunderte treu in Gottes
Kirche gedient haben.«
»Eine interessante Quaestio, die Ihr da stellt, Herr Inquisitor. Ihr sagt, ich irre mich aus zwei Gründen. Zum einen, weil
viele Menschen anderer Meinung sind als ich. Zum anderen, weil über Jahrhunderte eine andere Ansicht Geltung hatte. Bedeutet
das, daß aus der Summe von eins und zwei die Zahl vier ensteht, wenn nur genug Menschen über einen ausreichend langen Zeitraum
daran glauben?«
»Ihr schwingt eine mutige Rede, wenn man bedenkt, daß Ihr Euch als verurteilter Ketzer im Amt der Inquisition befindet.«
|127| William Ockham schöpfte geräuschvoll Atem. »Ihr wißt genau, daß Euch der Kaiser nur duldet in seiner Stadt, um ein Zeichen
des guten Willens zu setzen.«
»Und Ihr wißt, daß ich ebenso aus gutem Willen keine Strafen verhänge gegen die Geistlichen hier in München, die so tun, als
hätte Papst Johann XXII. nicht am 11. Juli 1324 Bann und Interdikt über die Anhänger Ludwigs des Bayern verhängt. Eigentlich
dürfte seit zwölf Jahren in den Kirchen weder die Messe gelesen noch gesungen werden. Es dürfte keine kirchlichen Begräbnisse
geben. Ich zucke jedesmal zusammen, wenn widerrechtlich die Glocken läuten.« Er hatte einen Einfall, in diesem Augenblick
hatte er einen Einfall, der ihn mit Stolz erfüllte. Er würde William Ockham einen Fehler nachweisen. Diesem über die Maßen
klugen Mann würde er beweisen, daß er nicht handelte, wie er sprach. »Ich staune, William«, sagte er, »daß Ihr einerseits
die Kirche und die Inquisition verdammt, andererseits aber hierherkommt, um uns den Häretiker Amiel von Ax auszuliefern.«
Der Engländer nickte. »Ihr fangt an, zu den guten Fragen vorzudringen. Kann etwas, das böse ist, dem Guten dienen? Ich bin
dieser Fragestellung schon einmal nachgegangen, bei der Quaestio, ob Gott befehlen kann, daß man etwas Böses tun soll. Dafür
spricht, daß er den Israeliten befohlen hat, alle Einwohner der Stadt Ai auszulöschen. Zu töten ist etwas Böses. Also hat
Gott Böses befohlen. Dagegen spricht, daß er nur befehlen kann, was er auch wollen kann. Gott kann das Böse nicht wollen,
er ist ja durch und durch gut. Ist also die Zerstörung, der Tod nicht immer
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