Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
das sie nun zur
     Schau stellte, schon immer ihr wahrer Kern gewesen. Dabei stimmte das nicht! Sie verabscheute Lügen. In Wahrheit zeigte sie
     nicht ihren Kern, sie hatte sich beschmutzt, das war alles.
    |135| In der Schwabingergasse, kurz vor dem Marktplatz, wurde sie von einer Nachtwache angehalten. Der Nachtwächter hob die Laterne.
     »Heda! Stehenbleiben!«
    Sie gehorchte.
    Er kam näher und leuchtete ihr ins Gesicht. »Was gehst du des Nachts durch die Stadt, und ohne Licht?«
    »Ich wußte nicht, daß es schon so spät ist.«
    »Das soll ich dir glauben? Du glaubst nicht, wie oft ich das zu hören kriege. Der eine hat die Abendglocke nicht gehört, der
     andere hat sie wohl gehört, wußte aber angeblich nicht, daß man nach dem Glockenschlag heimzugehen und dazubleiben hat – es
     sind immer die gleichen Ausreden. Wo willst du hin?«
    »Ins Gasthaus ›Zum Hirschen‹.«
    »In welcher Sache?«
    Sie schwieg. Sollte sie wieder lügen? Zog eine Lüge hundert weitere Lügen nach sich, und jede von ihnen weitere hundert?
    Er musterte sie. »Ich verstehe. Armes Ding. Komm. Du sollst nicht im Dunkeln allein durch die Straßen laufen. Weißt du nicht,
     wie gefährlich das ist?«
    Sie überquerten den Marktplatz, bogen auf den Rindermarkt ein. Irgendwo im Geäst saß eine Nachtigall. Sie sang mitten in den
     pechschwarzen Himmel hinein. Adeline erschauderte. Das Lied des Vogels war überwältigend schön. Hier war die Reinheit, die
     sie verloren hatte. Wie eine Mahnung sang die Nachtigall, zart, verletzlich, aber frei von Schuld.
    »Da«, sagte der Nachtwächter und hob die Laterne. Sie strahlte den Messinghirsch über der Toreinfahrt des Gasthauses an. »Paß
     auf dich auf, Mädchen.«
    »Ich verspreche es. Habt Dank.«
    Er machte kehrt und ging davon. Das Licht ging mit ihm. Es wanderte über die Hauswände wie der Widerschein eines Engels. Er
     muß einsam sein, dachte sie. Mochte er es, in der Nacht durch die stillen Straßen zu laufen, durch die tote, schlafende Stadt?
    |136| In einem Fenster des Gasthofs brannte eine Lampe. Dennoch scheute sie sich anzuklopfen. Wenn ich es nicht tue, dachte sie,
     wird Heinrich morgen übel zugerichtet, und er hat überhaupt nichts getan! Sie schlug gegen das Tor. Die Lampe verschwand;
     dann schien Licht unter dem Tor hervor. Ein Riegel knirschte, und die Tür wurde um einen Spalt geöffnet.
    »Was wollt Ihr?« fragte eine Frau. »Wir schenken nichts mehr aus.«
    »Ich suche Amiel von Ax.«
    »Kenne ich nicht. Hab den Namen nie gehört.« Sie schloß die Tür und schob von innen den Riegel vor. Das Licht entfernte sich.
    Adeline schluckte. Heinrichs Rettung war dahin. Mit Zangen würden sie ihm zu Leibe rücken, sie würden ihm spitze Eisen in
     Arme und Beine stechen, ihm die Daumen quetschen, das Fleisch anzünden. Sie hämmerte gegen das Holz. Unnachgiebig schlug sie
     dagegen, wieder und wieder, auch wenn sie selbst vor dem Krach erschrak.
    Das Licht kehrte zurück. Die Tür öffnete sich. »Bist du wahnsinnig? Du weckst meine Gäste! Dummes Miststück! Ich hole die
     Hausknechte, die bringen dir bei, was es heißt, in der Nacht Radau zu machen!«
    In einigen Fenstern wurde es hell. »Hört, es ist dringend«, sagte Adeline. »Ich muß Amiel von Ax sprechen. Er wohnt hier,
     hat man mir gesagt.«
    Die Wirtin packte sie am Arm und zog sie näher. »Mädchen, hör mir gut zu. Vergiß diesen Namen. Hast du mich verstanden?«
    »Warum sagt Ihr das?«
    Stumm sah ihr die Wirtin in die Augen. »Es ist zu deinem eigenen Besten. Vergiß ihn, geh nach Hause, und lebe dein Leben,
     als hättest du nie von ihm gehört.«

[ Menü ]
    |137| 9
    Nemo schob mit den Fingern ein Häufchen Staub zusammen. Er klopfte mit der Hand darauf. Schob es wieder zusammen. Er sehnte
     sich nach der alten Mühle. Dort war er frei gewesen. Durch die Löcher im Dach hatten die Sterne in der Nacht gefunkelt, und
     er hatte die Mäuse gehört, wie sie mit ihren Zähnchen einen neuen Gang durch die Holzwände nagten oder wie sie miteinander
     redeten in hohen Fieptönen. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Aufstehen und durch die taunassen Wiesen laufen. Ein
     Bad in der Isar nehmen. Ein Floß aus Gräsern bauen und es im Wasser aussetzen. Waren es nicht, im Rückblick betrachtet, gute
     Tage, gute Jahre gewesen, trotz des Hungers, trotz der Kälte?
    Aber war er er selbst gewesen als Tagelöhner? Er hatte ja seine Fähigkeiten verleugnet. Wer war er wirklich? All die Verwandlungen,
     all die

Weitere Kostenlose Bücher