Das Nest
brachte sie weg. »Sie werden jetzt sicher telefonieren wollen«, bemerkte er nicht unfreundlich. »Falls Sie sich später einmal nach unseren Fortschritten erkundigen wollen, rufen Sie uns einfach in Fordham an und verlangen Sie den diensthabenden Beamten. Er wird Sie über alle Einzelheiten informieren.« Er beendete das Gespräch, indem er sich umdrehte.
Langsam wandte Lindsay der deprimierenden Maske des Todes den Rücken zu. Und sofort wurden ihre Gedanken auf ein anderes Thema gelenkt. Auf der Lichtung erblickte sie das Trio der Polizeibeamten, dem sie heute schon einmal begegnet war. Aber jetzt bestand die Gruppe aus vier Leuten. Als sie die vierte Person erkannte, fühlte Lindsay einen Stich in ihrer Brust. Sie suchte den Blick der Frau in Begleitung der Ordnungshüter: Und Deborahs Augen verrieten dieselbe Angst, die sie selbst erfüllte.
FÜNF
Einen Augenblick lang stand Lindsay stocksteif, die journalistischen Instinkte im Kampf mit ihren Gefühlen als Freundin. Es handelte sich hier um eine brisante Story, die sie aufgestöbert hatte, und sie mußte unbedingt so bald wie möglich die Redaktion anrufen. Nach den Gesetzen der Logik konnte sie außerdem nichts für Deborah tun, nachdem der Polizei-Landrover sie weggebracht hatte. Das hinderte sie allerdings nicht daran, eine überwältigende Wut zu verspüren, die sich in dem dringenden Bedürfnis äußerte, etwas tun zu wollen. Ruckartig machte sie kehrt und ging zurück zum Tatort, wo sie über Rigano stolperte. Sie erkundigte sich mit ausgesuchter Beiläufigkeit und erhielt die Information, daß Deborah nicht verhaftet worden war, sondern lediglich die Polizei bei ihren Ermittlungen unterstützte. Ende der Durchsage. Lindsay drehte sich um und rannte los in Richtung zum Campingbus.
Sie verließ den Lichtkreis und tauchte in die undurchdringliche Dunkelheit ein. Sie taumelte über Baumwurzeln und durch heimtückisches Gestrüpp, mit dem fernen Schein des Lagerfeuers und den gedämpften Lichtern einiger weniger Zelte als einzige Orientierungshilfe. Sie stürzte der Länge nach über einen großen Stein und als sie sich zornig aufraffte, war sie über und über mit Schlamm bedeckt. Fluchend lief sie weiter Richtung Camp. Als sie dort eintraf, bemerkte sie, daß sich mehrere Gruppen von Frauen gebildet hatten, die nun angsterfüllt miteinander diskutierten. Ohne ihre fragenden Blicke zu beantworten, schotterte sie zum Bus und stürmte nach Atem ringend hinein. Jane saß da vor einer Tasse Kaffee. Sie warf Lindsay einen Blick zu und sagte: »Du weißt es also schon?«
»Wie geht’s Cara? Wo ist sie?« preßte Lindsay heraus.
»Sie schläft tief. Die Polypen waren sehr ruhig, sehr höflich. Aber der Bus darf nicht wegfahren, bis sie ihn untersucht haben.« Sie wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Lindsay lehnte sich hinüber und öffnete einer vor dem Fahrzeug stehenden Polizistin.
»Ja?« erkundigte Lindsay sich ungehobelt.
»Ich bin beauftragt worden, dafür zu sorgen, daß aus diesem Fahrzeug nichts entfernt wird, bevor unsere Beamten mit einem Durchsuchungsbefehl eintreffen«, antwortete sie.
»Na wunderbar«, bemerkte Lindsay bitter. »Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, wenn ich ein schlafendes Kind an einen Ort bringe, wo es nicht gestört wird.«
»Da spricht sicher nichts dagegen. Wo ist es denn?«
Lindsay zeigte auf die Vorhänge, hinter denen sich die Schlafkoje befand. Zu Jane gewandt erklärte sie: »Ich bring’ Cara zu Josy. Dort hat sie bestimmt keine Angst.«
Jane nickte und erwiderte: »Ich bleib’ hier, damit alles seine Richtigkeit hat.«
Lindsay grinste. »Danke. Ich muß telefonieren.« Dann nahm sie ihre gesamte Entschlossenheit zusammen und richtete das Wort an die Polizeibeamtin: »Ich bin Journalistin. Kommissar Rigano hat mich über die Einzelheiten der Geschichte informiert, und ich würde jetzt gern mein Redaktionsbüro anrufen. Bis ich zurückkomme, wenden Sie sich bitte an Dr. Thomas.«
Sie kletterte die Leiter hinauf und nahm Cara in die Arme. Das Mädchen murmelte im Schlaf, wachte aber nicht auf. Lindsay trug sie zu Josy und hastete weiter zur nächsten Telefonzelle. Überrascht stellte sie nach einem Blick auf ihre Armbanduhr fest, daß es erst eine halbe Stunde nach Mitternacht war. Sie wählte Judith Rowes Nummer. Nachdem die Anwältin einigermaßen aus dem Tiefschlaf aufgetaucht war, versprach sie, sofort zum Kommissariat zu fahren, um da zu sein, falls sie gebraucht wurde. Als nächstes
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