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Das Nest

Titel: Das Nest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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junge Mann mit dem verwirrten und verängstigten Hund der Familie nach Hause, was natürlich erklärt, warum das Tier beim Eingang saß und nicht über dem Leichnam seines Herrn heulte, wie wir es alle erwartet hätten. Simon brauchte nur sein schlammiges Lederzeug abzustreifen und vor der Polizei ein wenig zu schauspielern. Aber es hat ihn jemand gesehen: Deborah. Bestimmt ist Ihnen aufgefallen, daß körperlich, wenn auch nicht von den Gesichtszügen her, zwischen ihm und seinem Vater eine große Ähnlichkeit besteht. Deborah kannte Crabtree, aber nicht Simon, und sie dachte, es wäre der Vater und nicht der Sohn, dessen Silhouette sich am nächtlichen Himmel abzeichnete. Erst viel später wurde ihr bewußt, daß er zu dem Zeitpunkt schon tot gewesen sein muß. Und wahnsinnigerweise war ich es, die ihm den Tip gab, daß Deborah ihn beobachtet hatte. Ich erzählte ihm, sie hätte seinen Vater gesehen, aber er erkannte viel schneller als ich, wer Deborah da wirklich vor die Nase gelaufen war. Er verstand die Bedeutung und beschloß, daß Debs ein zu hohes Risiko darstellte, um die Angelegenheit einfach zu vergessen. Daher das Attentat auf sie, und daher auch ihre Überzeugung, von Rupert Crabtrees Geist verfolgt zu werden. Sie muß Simon kurz aus der Ferne gesehen und ihn dann in der Folge falsch identifiziert haben. Hoffentlich kümmern Sie sich noch immer um sie.«
    Rigano legte den Bleistift hin und seufzte. »Sehr plausibel«, murrte er. »Paßt auf alle in Ihrem Besitz befindlichen Fakten.«
    »Und es ist die einzige Theorie, von der das behauptet werden kann«, ergänzte Lindsay scharf. »Alles andere basiert auf einer Reihe völlig willkürlicher Zufälle.«
    »Ich neige dazu, mich Ihnen anzuschließen«, antwortete er lässig.
    »Und was beabsichtigen Sie jetzt zu tun? Da ist der Beweis«, erklärte Lindsay und zeigte auf das Band. »Sie müssen Ihre Spurensicherungsexperten beauftragen, Simons Sachen zu untersuchen. Sicher finden sie irgendwelche Anhaltspunkte.«
    »Ich werde nichts dergleichen tun. Außer natürlich, Ihnen mein Kompliment aussprechen: Gut gemacht, Lindsay. Ja, wirklich. Und jetzt vergessen Sie’s«, schloß er kalt.
    Lindsay starrte ihn fassungslos an. »Was?!« rief sie, außer sich vor Empörung. »Wie können Sie so etwas einfach ignorieren? Wie können Sie derartige Beweise ignorieren? Sie müssen ihn zumindest verhören!«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Verstehen Sie nicht?«
    »Nein, verdammt noch einmal, das verstehe ich nicht«, protestierte sie bitter. »Sie sind Polizist. Sie sind dazu verpflichtet, Verbrechen aufzuklären, die Schuldigen zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Bei Geschwindigkeitsübertretungen auf der Landstraße gelingt Ihnen das mühelos – und bei Mord geht’s plötzlich nicht?«
    »Bei diesem Mord«, entgegnete er. »Warum sonst leitet in diesem Fall ein Uniformierter die Untersuchung und nicht die Kripo? Aus welchem anderen Grund arbeite ich hier mit genau zwei Leuten, einem Hund und einer Zeitungsberichterstatterin? Ich soll keinen Erfolg haben.«
    Lindsay war sprachlos. Alles kam ihr so absurd vor. »Ich… ich kapier’s nicht«, stotterte sie.
    Rigano seufzte tief. Er sprach leise aber eindringlich. »Ich dürfte Ihnen das eigentlich nicht erzählen, aber mir scheint, ich schulde es Ihnen. Mit Simon Crabtree beschäftigt sich eine viel höhere Instanz außerhalb meiner Zuständigkeit, und es hängt noch irgendwas sehr viel Größeres daran. Es ist mir nicht erlaubt, ihn anzurühren. Selbst wenn er auf der Fordhamer Hauptstraße mit einer Kalaschnikow Amok liefe, könnte ich ihn nicht so mir nichts dir nichts verhaften. Verstehen Sie jetzt?«
    Plötzlich explodierte Lindsay vor Wut. »Aber ja, natürlich versteh’ ich. Ausgezeichnet sogar. Eine Bande jugendlicher Spitzenagenten hofft, über Simon Crabtree an einen armseligen KGB-Schläger heranzukommen. Deshalb gilt: Hände weg von Simon. Was bedeutet, Deborah wird zum Abschuß freigegeben. Sie kann nicht ewig von der Polizei bewacht werden. Der gute Simon wiederum hat keine Ahnung davon, daß er sakrosankt ist und wird es deshalb noch einmal probieren. Und dieses nächste Mal wird Deborah vielleicht nicht so viel Glück haben. Sie erwarten von mir, daß ich zusehe, wie eine schuldlose Frau einem Mörder und Verräter ausgeliefert wird? Vergessen Sie’s!«
    »Also, was haben Sie vor?«
    »Ich bin Journalistin, Jack«, gab sie zornig zurück. »Und ich schreibe die Story. Die ganze

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