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Das Netz im Dunkel

Das Netz im Dunkel

Titel: Das Netz im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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an mich. Sein Gesicht war freundlich wie das eines Großvaters. »Sie haben sie also gefunden? Lag sie auf dem Rücken?«
    »Nein, Sir, mit dem Gesicht nach unten. Ich wollte nicht glauben, daß sie tot ist, deshalb habe ich sie umgedreht.«
    Ich ließ den Kopf hängen und fing wieder an zu weinen.
    Mit mitleidiger Stimme fragte er: »Hatte Ihre Tante manchmal Schwindelanfälle?«
    Frage folgte auf Frage, bis Papa sich in einen Sessel fallen ließ und den Kopf in den Händen vergrub. Irgendwie vergaß ich ganz zu erwähnen, daß ich gehörthatte, wie die Hintertür ins Schloß gefallen war. Aber vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet.
    »Wo waren Sie, als Ihre Schwägerin gestürzt ist?« fragte der ältere Polizist und sah Papa offen an.
    »Ich habe geschlafen«, antwortete Papa, hob den Kopf und erwiderte den Blick des anderen Mannes, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Sogar als der Leichnam meiner Tante auf eine Bahre gelegt, zugedeckt und zum Polizeiwagen getragen wurde, gingen die Fragen noch weiter. Ich war benommen, mir war schwindlig, und ich hatte Sylvia ganz vergessen, die noch nicht gefrühstückt hatte. Ich machte etwas zu essen, nachdem die Beamten fort waren. Papa setzte sich und aß, was ich zubereitet hatte, sagte kein Wort zu mir, kaute und schluckte automatisch.
    Aber später, als ich allein in meinem Zimmer saß und Sylvia in ihrem Zimmerchen schlief, dachte ich an meine Tante und den Streit, den sie mit Papa gehabt hatte. Sie hatte zu Vera fahren wollen, und jetzt war sie tot. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr beunruhigte es mich, wenn ich an meine eigene Situation dachte. Wie oft hatte meine Tante mir eingeschärft, zu fliehen, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte? Hunderte von Malen. Jetzt, während Papa unterwegs war, um die Beerdigung vorzubereiten, war meine Chance gekommen.
    Wohin geht man, wenn das Schicksal einem das Herz bricht, wieder und wieder? Eine leise Stimme in meinem Innern sagte mir, daß Papa dachte, Mädchen würden nur geboren, um ihm zu dienen, wenn sie älter waren. Und wenn er alt und häßlich war, dann, dachte er, könnte er sie immer noch mit Geld kaufen–und wenn auch das Geld ihm nicht mehr helfen würde, dann hätte er immer noch mich, die für ihn sorgen und ihn vor den Heimenbewahren mußte, die er zu hassen schien. Noch während ich das dachte, tauchte eine andere, geflüsterte Drohung auf…diese schreckliche Sache, die meine Tante zu ihm gesagt hatte: daß er alles tun würde, um seinen Willen zu bekommen. Ich schoß wie wahnsinnig herum, warf meine Sachen in Koffer. Rannte dann in Sylvias Zimmer und raffte auch zusammen, was sie brauchen würde. Wir würden gehen. Gehen, ehe auch uns etwas Entsetzliches zustoßen konnte. Jetzt gleich, während Papa fort war und uns nicht aufhalten konnte.
    Als ich Sylvia mit mir fortzog, mußten wir am Salon vorbei. An der Tür blieb ich kurz stehen, um mich von Mutters großem schwarzen Flügel zu verabschieden. Ich bildete mir ein, sie dort sitzen zu sehen, hörte sie ihre Lieblingsmelodien von Rachmaninoff spielen.
    Und während ich dort stand, war alles Böse, Haßerfüllte und Gemeine, was meine Tante jemals zu mir oder Sylvia gesagt oder uns angetan hatte, wie weggeblasen. All das schob ich in die hintersten, dunkelsten Ecken meines Gedächtnisses, und ich erinnerte mich nur noch an die guten Dinge, die rücksichtsvollen Taten. Ich vergab ihr alles.
    Ich nahm die beiden schweren Koffer auf, zog Sylvia mit mir und schickte mich an, den Weg durch den Wald anzutreten. Billie sah mich ernst an, als ich ihr von meinen Plänen erzählte. Arden war entzückt. »Natürlich. Eine wundervolle Idee. Aber warum kann deine Tante nicht auf Sylvia aufpassen? Das werden nicht gerade tolle Flitterwochen, wenn wir sie die ganze Zeit über im Schlepptau haben.«
    Ganz leise und traurig erzählte ich ihnen, was geschehen war und daß es für mich bedeutete, jetzt oder nie zu fliehen. Aber ich hatte alles so erzählt, daß Papa keine Schuld traf. Warum hatte ich ihn geschont?
    Billie umarmte mich. »Wir müssen einfach daran glauben, daß manche Dinge so am besten sind, wenn wir sie doch nicht ändern können. Du hast mir erzählt, daß sich deine Tante den ganzen Winter über benommen hat, als wäre sie nicht glücklich oder als wäre sie krank. Vielleicht ist ihr wirklich schwindlig geworden. Aber es gibt keinen Grund, warum du Sylvia nicht hier bei mir lassen könntest, wenn du wirklich glaubst, du müßtest davonlaufen.

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