Das Netz im Dunkel
Audrina sterben, so will er in seinem Testament festlegen, daß mein Anteil, der mir durch Audrinas Testament zufließt, aufgehoben wird, sollte Sylvia in eine Anstalt eingewiesen werden oder sterben. Er will einen Fonds einrichten, so daß es monatlich ausgezahlt wird. Mir ist es egal, ob er mir etwas hinterläßt oder nicht. Ich kann immer genug verdienen, um uns Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf bieten zu können.«
»Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf–ist das alles, was du vom Leben erwartest? Jenseits der Mauern dieses Mausoleums ist eine Welt des Glanzes und Vergnügens. Daran will ich teilhaben, Arden. Sieh mich doch an. Ich bin fünfundzwanzig, ein Jahr jünger als du. Das Leben verstreicht so schnell.
Bald sind wir beide dreißig. Es heißt jetzt oder nie. Was helfen dir schon Unmengen von Geld, wenn du zu alt bist, um es zu genießen? Welchen Sinn haben schöne Kleider und teurer Schmuck, wenn deine Figur dahin und dein Hals faltig ist? Ich will es jetzt, Arden, jetzt! Solange ich noch hübsch genug bin, um stolz auf mich zu sein. Entscheide dich, Arden, entscheide, was du haben willst. Tu einmal in deinem Leben etwas. Du hast dich von deinem schlechten Gewissen beherrschen lassen, weil du an jenem Tag im Wald versagt hast…und in gewisser Weise hast du wieder versagt, als du so dumm gewesenbist, Audrina zu heiraten. Sag es jetzt, daß du mich nimmst und nicht sie. Ich will diese unglückliche Situation hinter mich bringen–heute noch!«
Wie zerrissen vor Unschlüssigkeit starrte Arden erst mich, dann Vera, schließlich Sylvia an, die ins Zimmer schlurfte. Sie kam zu meinem Bett herüber und versuchte mit ungeschickten Händen, mein Haar zu bürsten, während sie sich gleichzeitig bemühte, meinen Namen zu sagen. Aber Vera war da, und Sylvia konnte nicht einmal verhindern, daß ihre Hände zitterten. Sie schien zutiefst besorgt und enttäuscht, wandte sich langsam um und breitete weit die Arme aus, wie um mich zu beschützen.
»Wann immer es ihr gelingt, schleicht Sylvia sich an mich an und springt mich an. Sie schlägt ihre Zähne in irgendeinen Teil meines Körpers, den sie erwischen kann. Ich schlage sie, trete nach ihr, trete ihr auf die Füße und zieh an ihrem Haar, damit sie aufhört, aber sie hängt fest wie eine Bulldogge! Sie ist verrückt!«
Arden starrte nur weiter zu uns herüber, ohne ein Wort zu sagen. Dann wandte er seinen Blick mir zu. Ich lag wie ein Stück Holz, die Augen halb geöffnet, die Lippen schlaff. Die künstliche Nahrung tropfte in meine Vene, mein Haar lag in Strähnen auf dem Kissen. Ich wußte, daß ich nicht sehr reizvoll für ihn sein konnte.
»Ja«, sagte er schließlich, und Nebel umhüllte ihn und Vera, »ich glaube, du hast recht. Audrina würde lieber sterben als so weiterleben, wie sie jetzt ist. Sie ist zu jung, um so viel zu leiden. Ist es nicht ein Jammer, daß ich nie in der Lage war, ihr zu helfen, wo ich mir nie etwas anderes gewünscht habe, als sie vor noch mehr Leid zu bewahren? O Gott, wenn ich mich nur anders hätte verhalten können, dann wäre das alles heute vielleicht nicht passiert.«
Er ließ den Kopf hängen. Das letzte, was ich diesmal von ihm sah, war, wie er neben meinem Bett kniete, meine Hand umklammerte und unsere beiden Hände an seine Wange legte, die naß von Tränen war.
Und ganz schwach, ehe ich in dieses Nichts hinüberflutete, das sie Schlaf nennen, spürte ich die Wärme seines Gesichts, die Feuchtigkeit seiner Tränen. Ich versuchte zu sprechen, ihm zu sagen, daß ich nicht sterben würde. Aber meine Zunge blieb wie erstarrt, und ich konnte nichts anderes tun als davonschweben.
Letzte Riten
An einem, wie ich später herausfinden sollte, klaren Sommertag wurde mir bewußt, daß mein Tod vor der Tür stand.
Die zielbewußte Art, wie Vera an jenem Morgen in mein Zimmer stolzierte, verriet mir so viel. Sie kam an mein Bett und starrte in mein Gesicht hinab. Ich hielt die Augen fast geschlossen, weil ich wußte, daß meine Wimpern mir so das Aussehen einer Schlafenden geben würden. Ihre kalte Hand berührte meine Stirn, um die Wärme zu fühlen.
»Kühl«, sagte sie, »aber nicht kühl genug. Erholst du dich, Audrina? Deine Haut sieht heute besser aus–ja, du siehst fast lebendig aus. Ich glaube sogar, du hast etwas zugenommen. Aber ich bin sicher, daß Arden das nicht bemerkt.«
Sie kicherte. »Er sieht selten etwas anderes als dein Gesicht, nicht einmal, wenn er sich ins Zimmer stiehlt, um deine
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